VOLUME 1. 10 JAHRE PLATTFORM. Eine Anthologie (2014)
Volume 1. 10 Jahre Plattform. [Eine Anthologie.] Hrsg. v. „plattform“ [Valerie Fritsch, Florian Labitsch, Reinhard Lechner, Alexander Micheuz]. Wien: Sonderzahl 2014. (= edition graz. 7.)
[Mit Beiträgen von: Kateřina Černá, Astrid Ebner, FALKNER, Felicitas Ferder, Sarah Gabriele Foetschl, Valerie Fritsch, Julia Hager, Sonja Harter, Lilly Jäckl, Florian Labitsch, Reinhard Lechner/Christoph Szalay, Gerhard Melzer, Alexander Micheuz, Georg Petz, Marcus Poettler, R.A.P. (= Max Höfler/Nicola Lutnik), Andrea Stift, Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle, Sophie Reyer, Bernadette Schiefer, Stefan Schmitzer, Armin Schrötter, Roman Senkl, Clemens J. Setz, Cordula Simon, Marlene Streeruwitz, Thomas Talger]
Die Präsentation der Anthologie (11.12.2014, Literaturhaus Graz) lässt sich in einer Folge der von Barbara Belic betreuten Radioreihe „Das rote Mikro“ online nachhören.
In der Einleitung zur Anthologie beschreibt Gerhard Melzer, von 2003 bis 2015 Leiter des Literaturhauses Graz und des Franz-Nabl-Instituts, die Entstehung der Literaturgruppe „plattform“ als Folge des nach einer Lesung abends beim Bier ventilierten Vorschlags, „einen Freiraum für Schreibende im Anfangsstadium ihrer Entwicklung einzurichten. Ein Labor. Eine Kreativzone.“ Den ersten Treffen von „JungautorInnen“ in der noch weitgehend neuen Literaturvermittlungsinstitution Literaturhaus Graz folgte der Schritt an die Öffentlichkeit mit einer ersten Lesung in der Reihe „3 x 20“ am 13.10.2005. Von den Gründungsmitgliedern des von vornherein sehr lose angelegten Kollektivs – Sonja Harter, Marcus Poettler, Stefan Schmitzer, Roman Senkl, Georg Petz und Clemens Setz – lasen Marcus Poettler, Stefan Schmitzer und mit 22 Jahren als Jüngster Clemens Setz. „Die heimische Literaturlandschaft lebt wie schon lange nicht mehr“, konstatierte Werner Krause in einem Vorbericht (Kleine Zeitung v. 11.10.2005), und tatsächlich sollte sich in den nächsten Jahren – trotz der oder gerade wegen der Kalamitäten rund um die diskussionswürdige, die Grazer Literaturtradition weitgehend negierende Inszenierung des Kulturhauptstadtjahrs 2003 – diese Einschätzung bestätigen. Nicht zuletzt aufgrund der damals katastrophalen, mittlerweile unter neuer Führung ins Positive verkehrten Entwicklung im zentralen Veranstaltungs- und Kommunikationsmotor „Forum Stadtpark“ ab der Mitte der 1990er Jahre hatte ja die Literaturszene insbesondere im Veranstaltungsbereich einen Kahlschlag zu verkraften, wobei der von Birgit Pölzl befeuerte Leuchtturm „Kulturzentrum bei den Minoriten“ hier eine rühmliche Ausnahme bildet – ebenso wie der ungemein rührige Verein UniT (seit 1998) mit dem DRAMA FORUM. Eng mit den Dramenwerkstätten verbunden sind als „plattform“-TeilnehmerInnen dann auch Gerhild Steinbuch, Johannes Schrettle und Roman Senkl als Leitfiguren einer neuen Dramatikergeneration bekannt geworden.
„Nach der verlorenen Zeit“ betiteln Helmut Bast und Tiz Schaffer eine umfangreiche und detaillierte Bestandsaufnahme der Grazer Literaturszene (Falter v. 1.3.2006). Von den dort in einer Übersicht namentlich aufgeführten und mit Kurzbeschreibungen versehenen zwölf „neuen Jungen bis dreißig“ ist ein einziger – Christian Teissl – nicht der „plattform“ zuzurechnen, die von 2005 bis 2014 im Literaturhaus 23 Lesungsabende bestreitet, wobei zu den schon Genannten insbesondere Valerie Fritsch, Sophie Reyer, Cordula Simon und andere stoßen. Die starke Fluktuation unter den Gruppenmitgliedern ohne Mitgliedschaft, die neu Hinzukommende einer generösen, im Kollektiv vorgenommenen Vorselektion unterziehen, ist natürlich eine Folge der jeweiligen (Autoren-)Biographien mit wechselnden Interessenschwerpunkten, Um- und Auszügen, Zeitproblemen und Neuorientierungen aufgrund einer nicht mehr so notwendigen Assoziierungstendenz, die vor allem am Anfang einer Schriftstellerkarriere durch Selbstbestätigung und den geschützten Raum der Textdiskussion in der Gruppe eine wichtige Rolle spielt. Dennoch fällt auf, dass die „Altvorderen“ – bekannt gewordene, zunehmend professionalisierte Gruppenmitglieder – ihren Freundeskreis immer wieder kontaktieren und auch für Gruppenreminiszenzen per Lesung (etwa bei Jubiläen) zur Verfügung stehen.
Was die Zusammensetzung der Gruppe betrifft, ist eine starke Orientierung am akademischen Umfeld, insbesondere jenem der Germanistik, deutlich erkennbar. 18 (!) der 26 in der Anthologie Volume 1 vertretenen AutorInnen waren Grazer GermanistikstudentInnen (mit oder ohne Abschluss), eine Tendenz, die sich bis in die Gegenwart fortsetzt. Sicher hat hier auch die starke Verbindung zwischen der germanistischen Literaturwissenschaft und dem universitären Franz-Nabl-Institut, dessen MitarbeiterInnen als Lehrbeauftragte fungieren, eine Rolle gespielt.
Insgesamt lassen sich bis dato mehr als 40 Schreibende ausmachen, die dauerhaft oder zeitweilig der „plattform“ angehört haben, wobei sich in den letzten Jahren Florian Labitsch, Alexander Micheuz, Reinhard Lechner, Christoph Szalay und nunmehr Roman Senkl als besonders engagierte, auch im Organisationsbereich Tätige herauskristallisiert haben.
Eine gemeinsame verbindliche ästhetische oder politische Programmatik lässt sich bei der Gruppierung nicht erkennen, wovon die in der Anthologie versammelten disparaten Texte Zeugnis ablegen. Weder textsortenspezifische noch formale oder thematische Übereinstimmungen oder Vorgaben sind erkennbar. Auch eine machtkritische „Subversivstrategie“ der Negation der Altvorderen, wie sie bei sich selbst als (neo-) avantgardistisch definierenden Bewegungen häufig zu beobachten ist, wird nicht transparent. Pragmatisch-funktionale Interessenslagen, die auf dem Wunsch nach sozialem Austausch und auf Dauer möglichst gesicherten Präsentationsmöglichkeiten basieren, sind vom Kollektiv her gesehen im Vordergrund, wobei sich auch die AutorInnen individuell in höchst unterschiedlichen Handlungsfeldern bewegen. Personelle Querverbindungen zu explizit operativen oder formal avancierten Produktionsästhetiken ergeben sich am ehesten – obwohl nur kurzzeitig und peripher mit der Gruppe verbunden – bei Stefan Schmitzer oder Max Höfler, die sich in einem Nahverhältnis zur Zeitschrift und „Literaturgruppe“ perspektive befinden.
Der Werkstattcharakter der „plattform“ manifestiert sich insbesondere auch in den Workshops mit Josef Winkler (2009), Marlene Streeruwitz (2011), FALKNER (2013), den Stadtschreibern Ulrich Schlotmann (2016) und Radka Denemarková (2017/2018); ebenso ein Indiz für die Ausweitung des Regionalbezugs war die vom nunmehrigen Literaturhausleiter Klaus Kastberger eingerichtete Veranstaltungsreihe „Montagsbühne“ (2016/2017), in der die Grazer „plattform“-AutorInnen auf KollegInnen „von außen“ trafen. Seit dem Vorjahr ist wieder die „klassische“ Konstellation vorherrschend, in der „Neues von der Plattform“ vermeldet wird. Eine Anthologie Volume 2 wäre wünschenswert, die Gruppe ist ein dauerhafter wichtiger Puzzlestein in der ausgefransten Literaturszene der Stadt Graz, die so gern (wieder?) Literaturhauptstadt sein will.
Vom 14. bis zum 15. März findet im Literaturhaus Graz das vom Franz-Nabl-Institut ausgerichtete Symposium Graz 2000+ statt, das sich mit der Grazer Literatur nach 2000 beschäftigt. Die Beiträge werden im Herbst 2019 als Band 3 der Institutsreihe „Dossier online“ erscheinen.
Gerhard Fuchs