Franz Weinzettls Erzählung Im Pappelschatten, Liebste und ein paar Verortungen im Archiv – zugleich eine Hommage zum 70. Geburtstag
Fotoalbum zu „Im Pappelschatten, Liebste“ FNI-WEINZETTL-6.3.3; Projektskizze zu „Im Pappelschatten, Liebste“ FNI-WEINZETTL-4.1.4 (Ordner IVa); Blatt aus dem handschriftlich überarbeiteten Typoskript von „Im Pappelschatten, Liebste“ FNI-WEINZETTL-1.1.4.1 (Ordner IVa); Franz Weinzettl: Im Pappelschatten, Liebste (Salzburg und Wien: Residenz 1990, Exemplar des FNI).
Franz Weinzettl wurde 1955 in Feldbach geboren und wuchs in Gossendorf (in der Nähe von Kapfenstein und Bad Gleichenberg) in der Südoststeiermark auf, im sogenannten Vulkanland. Er ist Autor und Psychotherapeut und lebt in Gossendorf und in Graz. Bis dato hat Franz Weinzettl zehn Prosabücher vorgelegt, zuletzt den Band An der Erde Herz geschmiegt. Erzählung (Wien: Edition Korrespondenzen 2015). Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis des Landes Steiermark (1990), dem manuskripte-Preis (1997) und dem Hermann-Lenz-Preis (2005).
2021 kam der Vorlass des Autors an das Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung der Universität Graz. Und dieser Vorlass hat es in sich. Er enthält nicht nur Manuskripte, Typoskripte und Notizbücher zu den wichtigsten Werken des Autors, sondern auch eine große Zahl an Zeitungsausschnitten, Korrespondenzstücken mit Autor:innen wie Peter Handke und Alfred Kolleritsch sowie eine Fülle an Fotos und Fotoalben. Unter Letzteren sind viele Portraitaufnahmen, die Weinzettl selbst angefertigt hat, aber auch solche, die von ihm gemacht wurden, u.a. Portraits der bekannten deutschen Fotografin Isolde Ohlbaum. Und, last but not least, sind darin auch Fotos enthalten, die unmittelbar mit den Prosawerken in Zusammenhang stehen. So auch zu der hier besprochenen Erzählung Im Pappelschatten, Liebste (Salzburg und Wien: Residenz 1990). In diesem Fall wurden die Fotos erst im Nachhinein gemacht, als die Erzählung schon erschienen war. Eine nachträgliche Bebilderung gewissermaßen.
Der Titel dieser Erzählung führt auf eine falsche Fährte – und doch auch nicht! Es handelt sich nicht um eine zarte Liebesgeschichte, wie der Rafael Alberti (1902–1999), einem spanischen Dichter, nachgeformte Titel vermuten lässt, sondern um eine abgründige Liebesgeschichte, die retrospektiv erzählt wird, in der die hier titelgebenden Zeilen „Dich verachte ich noch am wenigsten“1 nur eine der vielen Gemeinheiten darstellt, die die weibliche Hauptfigur dem männlichen Protagonisten des Buches – beide sind namenlos – an den Kopf wirft. Die Beziehung zwischen dem er und der sie ist eine toxische, wie man heute sagen würde, wobei das Gift hier von der weiblichen Seite verspritzt wird, nicht umsonst wird sie vom männlichen Part einmal mit einem „giftigen Pilz[]“ (88) verglichen.
Auf seinem Weg zum Grab der Gutsherrin „Adolfine“ am Fuße des Kapfensteiner Kogels in der Nähe von Gossendorf wird der männliche Protagonist immer wieder von Erinnerungen an diese vertrackte Beziehung eingeholt: „Er wollte allein sein, versuchte jedoch vergeblich, sie aus seinen Gedanken zu verscheuchen.“ (106) Und diese Erinnerungen sind keine schönen. Da ist von einem „Liebesakt“ (61) die Rede, doch: „Es war eine Abart des Liebesakts. Oder besser: kein Akt der Liebe, sondern nichts als eine wilde Vögelei – pausenlos redend, drang sie in sein offenes Ohr und stülpte sich dabei gleichzeitig über ihn.“ (61) Zuletzt die Vermutung, dass auch er kein Heiliger sei, denn: „Hinter seiner Lust, das Allerintimste von ihr zu erfahren, verbarg sich im Grunde die, sie vor Wollust seufzen und schreien zu hören? Alle ihre Geständnisse waren, schien ihm zumindest jetzt, tatsächlich bloß ein Ersatz dafür gewesen. Für ihn und für sie.“ (61) Und doch gibt es da ein Machtgefälle, das sie gehörig ausnutzt, etwa indem sie ihm einmal sagt, er sei „[n]icht unintelligent“, „aber unbeholfen, ungeschickt, tollpatschig“ (82). Eindrücklich und symptomatisch auch die Beschreibung ihres verächtlichen Umgangs mit seinen Geschenken: „Und brachte er ihr ein Geschenk mit, nahm sie es selten anders als gelangweilt entgegen. Legte es wie etwas zur Seite, was ihr schon jetzt im Weg war – und die Blume, das Buch, die Süßigkeit oder welche ‚kleine Aufmerksamkeit‘ auch immer lagen wochenlang, ja monatelang am selben Platz, wie ein Handschuh oder ein Regenschirm, den irgendwer, weiß Gott wann, vergessen hatte. Ereignete sich aber das Allerungewöhnlichste, daß ein Schimmer von Freude über ihr Gesicht huschte, lag es nicht daran, daß sie das Geschenk von ihm bekommen hatte.“ (93)
Die Erzählung Im Pappelschatten, Liebste ist aber nicht nur die Geschichte einer erinnerten Liebe, sondern auch ein schönes Beispiel für Nature Writing. Auch dies lässt der Titel schon erkennen. Franz Weinzettl ist ein Meister der Naturbeschreibungen. Die Wanderungen des männlichen Protagonisten zum Grab der Adolfine mit dem verschwiegenen Familiennamen außerhalb des Friedhofs – weil sie eine ‚Andersgläubige‘ war – unter dem Schloss Kapfenstein ist einerseits geprägt von historischen Reflexionen über das Land und seine Bewohner:innen, andererseits von Beschreibungen von Pflanzen, Tieren und Steinen. Diese drei sind auch Thema in Goethes Gedicht Ein Gleiches (Wandrers Nachtlied II) von 1780, das gewissermaßen die Matrix darstellt für Weinzettls Erzählung: „Über allen Gipfeln / ist Ruh, / In allen Wipfeln / Spürest du / Kaum einen Hauch; / Die Vögelein schweigen im Walde. / Warte nur, balde / Ruhest du auch.“2 Während Goethe von der Gesteinswelt über die Flora zur Fauna kommt, überwiegt bei Weinzettl die Pflanzenwelt, wenngleich auch Steine (besonders der lokale Basalt) und Tiere (Hunde, Vögel) mitunter Beachtung finden.
Derartige Naturbeschreibungen, nicht selten metaphorisch und anthropomorphisierend, finden sich zuhauf in dem Büchlein. Ein paar Beispiele mögen dies belegen. So heißt es da etwa: „In einem Blatt des Haselnußstrauchs daneben entdeckte er zwei Augenlöcher und eines für die Nase, wie mit einer Schere herausgeschnitten: das Blattgesicht ähnelte den Kürbisgesichtern, hinter die man früher nachts eine brennende Kerze gestellt hatte.“ (89) Und: „Auf der Grabplatte lagen erste Blätter – Schildkröten, deren lange, dünne Hälse und kleinwinzige Köpfchen sich in die Höhe reckten und witterten; kleine Hände, die sich da festhielten wie auch im Gras rundum und auf der weihnachtsbaumgroßen Fichte, die, weil genau gleich lang, aus dem Grab geklappt wirkte.“ (89) Es geht Weinzettl und seinem Erzähler merkbar darum, „die Natur mit allen Sinnen“ (60) aufzunehmen und für Naturbeschreibungen originelle Bilder und Metaphern zu finden. Dabei kommen nicht selten ungewöhnliche Pflanzen in seinen Blick: „Flockenblumen blühten, und Wegwarten“ (73). Weinzettls Bestreben sei es, so Harald Miesbacher, das „Wesen der Natur“ zu ergründen, im „Gehen“ so etwas wie „mentale Stärkung“ zu erfahren und davon ausgehend eine naturgeleitete „Selbsterkundung“ zu unternehmen.3 Der Autor erweise sich in vielen seiner Texte als „ferner Nachfahre des einstigen poetischen Realismus österreichischer Prägung“, wie ihn vor allem Adalbert Stifter repräsentiere, „eine zeitgemäße literarische Adaption von dessen Naturbetrachtung scheint offenkundig Weinzettls großes poetisches Anliegen zu sein.“4 Sprachlich ist das alles ganz wunderbar gearbeitet. Und die Naturidylle wird nicht selten aufgebrochen durch ein Kraftwort, das aufzeigt, wie sehr der Mensch einem naturverbundenen Dasein entfremdet ist.
Auch das memento mori, das in Goethes Gedicht evoziert wird, hat sich in Weinzettls Erzählung eingeschrieben, die wie viele Texte des Autors ein „Schwellen-Text“5 (Daniela Bartens) ist, der angesiedelt ist zwischen Natur und Kultur, Ich und Welt, Leben und Tod. So reflektiert der Erzähler über den frühen Tod der Gutsherrin Adolfine mit nur 28 Jahren, ihre mögliche Todesart, und auch über den Tod eines Landstreichers, den er als Kind mitbekommen hatte. Zuletzt schließlich über den eigenen Tod: „Wer stünde an seinem Grab?!“ (102; Herv. i. Orig.) Ein Satz verweist ganz unmittelbar auf Goethe: „Kaum ein Windhauch war zu spüren.“ (50) („Spürest du / Kaum einen Hauch“) Nicht nur Goethe, auch Peter Handke, mit dem Weinzettl befreundet ist („Du bist einer der wenigen, mit denen ich gern ab und zu beisammensäße, ungezwungen, einfach so.“6), könnte für die Erzählung Pate gestanden haben. Insgesamt kann man Jochen Jung, dem damaligen Chef des Residenz Verlags, zustimmen, der Weinzettl zu dem Buch, für das er allerdings keine „Euphorie“ empfand, folgende Zeilen zukommen ließ: „Du bist wohl für beides, für die Natur wie für die ungelöste Beziehung, auf dem Weg zum Spezialisten – warum auch nicht. Was lag daher näher, als beides zusammenzubringen.“7
Anlässlich der Verleihung des Landesliteraturpreises äußerte Gerhard Melzer in seiner Laudatio Folgendes über den Autor: „Weinzettl ist – wiewohl es ihm vielfach nachgesagt wird – kein Idylliker. Zwar sind seine Geschichten hingespannt auf Einklang und Versöhnung, auf ein dauerhaftes Gleichmaß, wie es insbesondere im Fortgang der Jahreszeiten faßbar wird; gleichzeitig nisten aber in diesen Geschichten Entzweiung und Krieg.“8 Damit ist ein wesentliches Merkmal des Weinzettl’schen Schreibens benannt, das keine falschen Idyllen produziert, sondern in der minutiösen Naturwahrnehmung eine Schule des Sehens vorführt, die auch das Abgründige wahrnimmt.
Im Vorlass des Autors am Franz-Nabl-Institut findet sich u.a. ein 50-seitiges Typoskript zum Werkprojekt Im Pappelschatten, Liebste mit handschriftlichen Korrekturen und eine einseitige Projektskizze, die den Inhalt der Erzählung in knapper Form zusammenfasst. Die Erzählung wurde noch auf der Schreibmaschine getippt. Auch die erste Schreibmaschine Weinzettls befindet sich im Vorlass am Franz-Nabl-Institut und eine von Alfred Kolleritsch, die Weinzettl vom Autor und langjährigen Herausgeber der manuskripte geschenkt bekommen hat. In der „Nachbemerkung“ zu Weinzettls Erzählung Der Jahreskreis der Anna Neuherz (Wien: Edition Korrespondenzen 2004) schreibt Kolleritsch über sich und Weinzettl: „Beide kommen wir aus dem vulkanischen Gebiet der Oststeiermark[.]“ Und: „Wer so wie wir von den Vulkanen kommt, von der roten Erde, ihren Kastanienwäldern, Weingärten, vom splittrigen, harten Basalt und aus dem Umkreis der leichten, schwebenden Tuffsteine, dem ist die Landschaft die zugekehrte Anschauung, aus der man lernt, das davon Wahrnehmbare, in Sprache Übersetzbare in der Schrift festzuhalten.“9 In Im Pappelschatten, Liebste heißt es demgemäß: „Indem er die Geschichte dieses Landstrichs und seiner Bewohner erforschte und beschrieb, leistete er unvergleichbar mehr ‚für die Heimat‘ als alle jene Männer zusammengenommen, die als Soldaten in den beiden Weltkriegen gekämpft hatten und gefallen waren.“ (36) Das ist nicht ganz unbescheiden. Franz Weinzettls Schreibprojekte haben jedenfalls einen dokumentarischen Anspruch. Deshalb auch die Fotos, die sie flankieren und die er in Alben zusammengestellt hat, eines davon auch zur Erzählung Im Pappelschatten, Liebste. Sie sind Zeugen einer ländlichen Welt, die im Verschwinden begriffen ist oder aus der der Mensch zusehends verschwindet. Einer Welt, die etwa auch Gerhard Roth in seinen Büchern und Fotos zu konservieren trachtete. Bücher, Fotos und Filme: Archen, die die Welt ‚retten‘ (im Sinne Walter Benjamins), indem sie sie der Nachwelt überliefern.
Nicole Streitler-Kastberger
1Franz Weinzettl: Im Pappelschatten, Liebste. Erzählung. Salzburg und Wien: Residenz 1990, S. 55. In der Folge mit einfacher Seitenzahl in Klammern nachgewiesen.
2Johann Wolfgang von Goethe: Ein Gleiches. In: J. W. v. G.: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Bd. 1: Gedichte und Epen I. Hrsg. von Erich Trunz. München: DTV 1988, S. 142.
3Harald Miesbacher: Franz Weinzettl, Dichterfreund. Zum 70. Geburtstag des Autors. In: manuskripte 249 (2025), S. 230–238, hier S. 233.
4Ebd., S. 237.
5Vgl. https://franz-nabl-institut.uni-graz.at/de/neuigkeiten/objekt-des-monats-juni-2021/ [27.10.2025].
6Postkarte Peter Handkes an Franz Weinzettl vom 31.1.1989 aus Limoges. In: FNI-WEINZETTL-2.1.2.
7Brief Jochen Jungs an Franz Weinzettl vom 25. Juli 1988. In: FNI-WEINZETTL-4.1.4 (Ordner IVa).
8Gerhard Melzer: Rede zur Verleihung des Literaturpreises des Landes Steiermark an Franz Weinzettl, gehalten am 2. Juni 1991. In: FNI-WEINZETTL-2.4.1 (Ordner V).
9Alfred Kolleritsch: Nachbemerkung. In: Franz Weinzettl: Der Jahreskreis der Anna Neuherz. Erzählung. Wien: Edition Korrespondenzen 2004, S. 141–143, hier S. 141.