DORIS MÜHRINGER: WIEN, JULI 1945
1 Typoskriptblatt (20,9×14,8 cm), „Wien, Juli 1945. Die Stiefel in Grinzing“, dat. 27.9.1998. Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung. Nachlass Doris Mühringer, Karton 2/3.10.
Das Gedicht Wien, Juli 1945. Die Stiefel in Grinzing der in Graz geborenen Lyrikerin, Erzählerin und Übersetzerin Doris Mühringer (1920-2009) erschien erstmals im Band Aber jetzt zögerst du. Späte Gedichte (1999) und später in Es verirrt sich die Zeit, den gesammelten Werken, die 2005 herausgegebenen wurden. Im Nachlass erhalten hat sich nur die Reinschrift als Typoskript, jedoch keine Entwürfe oder Arbeitsfassungen, was mit Mühringers literarischer Produktionsweise in Zusammenhang stehen könnte, die darin bestand, wie sie selbst äußerte, „dem Einfall die ihm zukommende Gestalt zu geben: ein Prozeß ohne Kompromisse, der ab und zu sogleich vollendet ist (das ‚geschenkte Gedicht‘)“, jedoch „manchmal Monate, auch Jahre“ dauern konnte.
Mühringer, aufgewachsen in Graz und Wien, wo sie u.a. Germanistik, Kunstgeschichte und Philosophie studierte, war am 5. April 1945, wenige Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee in Wien, nach Salzburg geflüchtet, wo sie bis 1950 als Büroangestellte in militärischen und zivilen Stellen der US-amerikanischen Militärregierung arbeitete, und 1954 – auf Anraten von Hans Weigel – nach Wien zurückgekehrt. Dort nahm sie an dessen legendärer Tischrunde im Café Raimund teil. Zwischen 1957 und 1969 erschienen u.a. zwei Gedichtbände sowie einige Bilderbücher für Kinder und 1976 mit Staub öffnet das Auge ein dritter Gedichtband.
Das ausgewählte, zum Spätwerk zählende Gedicht ist für Mühringer untypisch, da ihr Werk existenzielle, jedoch nicht unmittelbar zeitspezifische Thematik aufweist und häufig die Mitteilbarkeit von Geschichte selbst problematisiert. Das vorliegende Gedicht, dessen unmittelbarer historischer Kontext durch den Titel deutlich wird, evoziert durch die Datierung die unmittelbare Nachkriegszeit in Wien, dennoch entzieht sich der Text einer politischen Aufladung. Nach Kriegsende waren 400.000 Soldaten der Roten Armee in Österreich stationiert, durch ihre enorme Präsenz stellten sie in Ostösterreich „die Fremden“ schlechthin dar. Die Welle von Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee, die das Gedicht thematisiert, löste zu Kriegsende einen Schock aus, der bis heute relativ stark im kollektiven Gedächtnis der österreichischen Bevölkerung verankert ist.
Akzeptiert man die Datierung des Typoskripts, hat Mühringer das Gedicht im September 1998, also mehr als 53 Jahre später verfasst, wodurch sich die Auffassung Christian Loidls bestätigt, dass Mühringer „zwischen sich und die Dinge Distanz“ gelegt hätte, wovon auch die Widmung ‚In Erinnerung an Risa Z.-B.‘ zeugt. Grinzing, der idyllische Weinhauer- und Vorort Wiens – bis zur Zonenaufteilung der Alliierten im September 1945 zur sowjetischen Zone gehörend –, wird zum Ort sexueller Gewalt. Die ‚Stiefel‘, eine Metonymie für den Soldaten, sind gleichzeitig ein Symbol für den gewalttätigen Akt, der sich bereits im Titel ankündigt. Zehn Verse bilden den atemlosen Monolog eines lyrischen Ichs über Verfolgung und den erfolglosen Fluchtversuch durch die Weinberge. Die viermalige Wiederholung (‚und er kam‘) ist keine simple Aneinanderreihung, die ordnende und rhythmisierende Wiederholung hat betonende und intensivierende Funktion. Die ungeraden Verse eins, drei, fünf und sieben beziehen sich auf die Art des Versuchs zu entkommen, die geraden Verse steigern durch ihre Parallelität die Dramatik der Bedrohung. Die zwei letzten Verse fallen aus dem Schema heraus, da sie das Gedicht mit dem Reimpaar ‚Geschlecht‘ – ‚Geschlacht‘ enden lassen.
Stefan Maurer