AUFBEWAHRUNGSSYSTEM: ARCHIVSCHACHTEL
„Am Anfang war sehr wenig in Ordnung. Es war eine alte Biedermeierkommode mit drei breiten Laden, in die ich einfach alles hineingegeben hab. […] Dann ist die Kommode zu klein geworden, und ich hab ein Zimmer genommen und die hervorragenden Bananenschachteln instrumentalisiert.“ So äußerte sich Gerhard Roth, dessen Vorlass sich im Archiv des Franz Nabl-Institut für Literaturforschung befindet, 2002 in einem Interview, welches in „manuskripte“ erschien, bezüglich seiner Selbstarchivierungspraxis.
Roths Ausführung zeigt hinsichtlich der historischen Entwicklung und Herausbildung der Archivierungstechnik und -praxis aufschlussreiche Parallelen auf: Seit dem Mittelalter dienten Schränke dem Schutz, aber auch der Präsentation des Sammlungsgutes. Als Speicher- und Ordnungsbehälter gewährleisteten sie das Speichern am Standort, aber auch die Übertragung ihrer Inhalte. Perfektioniert wurde der Archivschrank übrigens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Josef von Zahn, den Direktor des Steiermärkischen Landesarchivs.
Im Gegensatz dazu war Johann Wolfgang von Goethe knapp zwei Jahrhunderte vor Roth bei seiner Selbstarchivierung zunächst noch in der zweiten Dimension verblieben, fertigte er doch große Briefumschläge, die er „Säcke“ oder „Kapseln“ nannte, an, in denen er seine Papiere und „Acten“ zu verwahren pflegte, bevor 1822 sein „Nachlass“ durch den Weimarer Hofbibliothekar Friedrich Theodor Kräuter geordnet wurde.
1894 sprach der österreichische Germanist Jakob Minor noch eher abfällig davon, dass „Centralanstalten für litteraturgeschichtliche Hilfsarbeiten“, diejenigen Institutionen, die Wilhelm Dilthey 1899 in seinem Vortrag als „Archive für Literatur“ bezeichnet hatte, keine bloßen „Stapelplätze“ sein sollten, wo „Papiere in Empfang“ genommen werden.
Dass Minor den Ausdruck „Stapelplätzen“ benutzt, ist mediengeschichtlich aufschlussreich, spricht man den ‚Verpackungen‘, die „keine bloßen Mittel“, aber auch „keine ganz unterwürfigen Sklaven sind“ (Walter Seitter), mediale Qualitäten zu. Die diskursive Ordnung des modernen Literaturarchivs verdankt sich u. a. auch Innovationsschüben der papierverarbeitenden Industrie, welche die Verwendung von (Falt-)Schachteln – eigentlich ein Produkt für die Verpackung von Industriegütern – für Zwecke der Archivierung begünstigte.
Vorläufer dieses Aufbewahrungssystems finden sich bereits in den 1770er Jahren: Daniel Charles Solander, Botaniker, Weltumsegler und Schüler des Naturhistorikers Carl von Linné, hatte als Kurator der British Library in London eine (allerdings aus weichem Holz gefertigte) Schachtel konstruiert, die, einem kunstvoll aufklappbaren Buch ähnelnd, Platz für Dokumente bot. Noch das „Handbuch für Autographensammler“ (1856) von Johannes Günther und Otto August Schulz zeigt als Sammlungs- und Aufbewahrungssystem für wertvolle Handschriften einen „Autographen-Carton“ in Buchform. Die Medien Buch und Schachtel scheinen zunächst untrennbar miteinander verbunden. Ein möglicher Grund dafür könnte darin liegen, dass ein einzelnes Blatt „liegen, fallen, vielleicht ein bißchen schweben“ könne, so Walter Seitter, aber eben nicht „stehen kann“.
Aus medienhistorischer Sicht ist deshalb die ‚Logik der Faltung‘ für die Praxis der Archivierung von hoher Bedeutung. Denn während (die senkrecht aufgestellten) Bücher einer Bibliothek sicher in einem festen Einband aus Pappe ‚stecken‘ und (zumeist) in mehreren Exemplaren vorliegen, besitzen Archivalien den Status der Einzigartigkeit, sind dementsprechend schutzbedürftig. Eine grundlegende konservatorische Maßnahme besteht darin, Archivalien nicht nur mit säurefreiem Papier und Mappen, sondern auch ‚Kartonagen‘, also ‚Archivschachteln‘, zu umhüllen, um das Archivgut von mechanischen und klimatischen Einflüssen abzuschirmen. Die beste Art der Lagerung von Archivalien im Literaturarchiv besteht deshalb darin, diese in festen, geschlossenen Boxen aus Karton zu lagern.
Stefan Maurer
Ähnlich gelagerte ‚archivologische‘ Fragestellungen und Kontexte werden im Zentrum des internationalen Symposiums „Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen“ stehen, die vom 19. bis 21. April 2017 am Adalbert-Stifter-Institut des Landes OÖ / StifterHaus, Linz in Zusammenarbeit mit dem Franz Nabl-Institut für Literaturforschung der Karl-Franzens-Universität Graz organisiert wird.