PETER HANDKE IM ARCHIV DES FRANZ-NABL-INSTITUTS FÜR LITERATURFORSCHUNG
Foto (13 x 9) in braunem Fotoalbum „I Peter Handke (1987–1997)“ im Vorlassbestand von Franz Weinzettl [FNI-WEINZETTL-6.4.1]
Fürs erste ging er vor dem Pilz, der am Rand des Bergaufwegs, im Gegensatz zu all den anderen Dingen und Gewächsen, auch den hohen Bäumen, unbewegt im Sommerwind stand, in die Hocke, setzte sich dann daneben ins Laub, unbekümmert um seinen Aufzug, an dem ihn sonst jeder Fussel störte. Immer wieder, ohne Vorsatz, schweifte sein Blick von dem Ding weg in den Umkreis, wie davon wegpulsend, gemächlich, im Gleichmaß, in ständig weiteren Kreisen. […] Später streckte er sich sogar neben dem Pilz aus.1
Diese Zeilen aus Handkes Versuch über den Pilznarren, zumal der letzte Satz, scheinen wie eine perfekte Schilderung der Szenerie, die auf dem Foto aus dem Vorlass seines Freundes Franz Weinzettl abgebildet ist. Der steirische Autor, Psychotherapeut und Fotograf betitelt seine Aufnahme mit „Peter Handke und ein Pariser Stadtrandwaldpilz, wenige Augenblicke nach dem Zueinanderfinden“ – ein Zueinanderfinden mit zwei Prachtexemplaren eines besonderen Pilzes: Es handelt sich dabei nämlich um den „Steinpilz, den hongo, den jurček, den vrganj, den cèpe, den boletus edulis“2, dem der Pilzkenner Handke in seiner 2013 erschienenen Geschichte für sich – so der Untertitel – ein literarisches Denkmal setzt. Der so streitbare wie umstrittene Nobelpreisträger feiert am 6. Dezember dieses Jahres seinen 80. Geburtstag. Entstanden ist die Aufnahme am 8. November 1996; Weinzettl hatte Handke von 5. bis 10. November in Chaville besucht. Er erinnert sich wie folgt an den Besuch:
Schon am ersten Tag wurde ich eingeladen, ihn in den Wald zu begleiten. […] Nach wenigen Such-Schritten ganz ungewohnt hingegen, wie ich mich radikal verlangsamen musste – denn mein Gastgeber suchte mehr im Stehen als im Gehen, nicht mal da und mal dort unter ein Laub, unter ein zu Boden gefallenes Rindenstück, hinter ein Waldgrasbüschel äugend, sondern er suchte, wie auf einem anderen Planeten, also von anderer Schwerkraft umgeben, unterwegs, in seinem Umkreis, den ganzen Boden ab. […]
Mich wieder und wieder einzubremsen kostete mir derart viel Kraft, dass wenig von ihr übrigblieb fürs Suchen hier und jetzt. Als Stadtbewohner gewohnt, eilig unterwegs zu sein, auch wenn es gar kein rechtes Ziel gab, fiel es mir denkbar schwer, mich auf die Langsamkeit des Gastgebers einzustellen, der ganz im Suchen aufging, und dabei (ein großer Unterschied) nicht alles abwertete, was sich nicht als das Gesuchte, Erwünschte herausstellte, sondern den das Suchen selber freute und der an all dem, was als eine Versteckmöglichkeit hätte genützt werden können von einem Pilz, Gefallen fand.3
Entsprechend auch der Eintrag im V. Band seiner Tagebücher von 1996, der sich ebenfalls im Archiv des Franz-Nabl-Instituts befindet: „P. fand mehrere Pilze, ich ging diesmal völlig leer aus.“4 Zwei Seiten später hat Weinzettl sogar den Zweig einer Konifere aus ebendiesem Wald und von ebendiesem Spaziergang eingeklebt.
Der private Schnappschuss des versonnen auf das begehrte Naturobjekt blickenden, dabei sichtlich in seinem Element befindlichen Jubilars illustriert zugleich auf besonders sinnfällige Weise, wie die Bestände im Archiv des Franz-Nabl-Instituts oft zusammenhängen, ja manchmal geradezu myzelartig ineinander verwoben sind. Viele der hier verwahrten Fotografien, Briefe und Notizen sind nämlich Zeugnisse einer Freundschaft – im konkreten Fall derjenigen zwischen Peter Handke, Franz Weinzettl und Alfred Kolleritsch, die, wie so vieles Bedeutende im (nicht nur) österreichischen Literaturbetrieb seit den 1960er Jahren, auf die manuskripte-Herausgeberrolle des Letzteren zurückgeht. Die beruflich-freundschaftliche Verbindung der drei Literaten bildet sich demgemäß im Vorlass Weinzettls, im Teilbestand des Nachlasses von Kolleritsch wie auch in den Materialien des manuskripte-Redaktionsarchivs ab. Das gewählte Objekt des Monats exemplifiziert wie gesagt diesen hohen Grad an Interreferenzialität: So findet sich im genannten Materialkomplex auch ein weiterer Abzug des Fotos, der auf der Rückseite mittels Stempel Franz Weinzettl als Urheber ausweist und zusätzlich den handschriftlichen Vermerk „Paris, 1996“ trägt.
Auf der Suche nach inhaltlichen Schnittmengen fallen unweigerlich ‚materielle‘ Differenzen ins Auge; die unterschiedliche Sortierung der Unterlagen – sofern überhaupt ein Ordnungswille erkennbar ist – bietet wohl auch einen kleinen Einblick in die Arbeitsweise des jeweiligen Bestandsbildners. Das Weinzettl-Konvolut wurde fein säuberlich geordnet übergeben: vermappt und sortiert, im Fotobestand ist jedes Foto entweder in ein beschriftetes Album geklebt oder in Fotohefte gesteckt. Der Kolleritsch-Nachlass hingegen präsentierte sich bei der Übergabe vor allem im Fotobestand eher im Urzustand des ‚kreativen Chaos‘ – einzelne Bilder sind lose in Flügelordner, Klarsichtfolien oder wiederverwendete Kuverts gesteckt.
Besagtes Album von Weinzettl enthält beispielsweise noch Aufnahmen von Handke-Besuchen in Kolleritschs Geburtsort Brunnsee, wo er unter anderem bei Buschenschankrunden oder gemeinsam mit Franz Weinzettl und den beiden Söhnen von Alfred Kolleritsch beim barfüßigen Fußballspiel auf der Wiese zu sehen ist. Weitere Besuche bei Handke in Frankreich und gemeinsame Ausflüge mit ihm sind ebenfalls darin festgehalten. Auch in den übrigen Fotobeständen von Weinzettl taucht Peter Handke wenig überraschend immer wieder auf.
In der Fotosammlung aus dem Teilnachlass von Alfred Kolleritsch ist Peter Handke desgleichen mehrfach vertreten, seien es Bilder rund um die Verleihung des Petrarca-Preises, in dessen Jury beide Autoren von 2010 bis 2014 saßen, oder Aufnahmen von der berühmten USA-Reise 1971. Das wohl prominenteste Bild dieser Reise, die beiden mit getönten Brillen neben einem Aussichtsfernrohr auf dem Empire State Building, ziert das Cover des Bandes Schönheit ist die erste Bürgerpflicht, in dem 2008 der Briefwechsel zwischen Handke und Kolleritsch veröffentlicht worden ist. Skizzen zum Nachwort von Kolleritsch finden sich in dessen Notizbüchern, so schildert er etwa:
Den [gestrichen: Der] Briefwechsel zwischen Freunden, die noch am Leben sind [gestr.: , die noch schon zu Lebzeiten] zu veröffentlichen, [gestr.: setzt sich] könnte sich in einem Gewirr von Reaktionen versetzt sehen. Peter Handke + mich verbindet eine kontinuier[lich] wachsende Freundschaft, eine vorsichtige, sich prüfende + doch eine von Dauer. […] Wir sind uns Nahe [!] geblieben – es war wurde nach außen hin eine [gestr.: vorsichtige] scheue Nähe. [gestr.: Über die Jahre hin gewann die Nähe an Kraft.] […] Öfter lud er mich nach Paris ein – war an Drehtagen von Die linkshändige Frau mitunter seinem wesenseigen[en] Grimm ausgesetzt – wenn ich, ohne Franz[ösisch] zu kennen, dabeistand – heute in Chaville – sind die Pilze das begeisternde Dritte, das uns hält.5
Damit vermittelt das Lichtbild, das den vielleicht größten lebenden Sprachkünstler deutscher Zunge in trauter Zweisamkeit mit einem kapitalen ‚cèpe‘ zeigt, nicht nur einen Eindruck von dessen – ja verschiedentlich auch literarisch fruchtbar gemachter – Pilzpassion, sondern kann auch anders gelesen werden: als Sinnbild für eine Freundschaft unter Intellektuellen, setzt das Sich-Ablichten-Lassen des damals schon Weltberühmten in so verletzlich-spielerischer Pose doch ein tiefes Vertrauensverhältnis voraus; und als Beispiel für die vielfältigen intertextuellen und interpiktorialen Bezüge, die sich unweigerlich in Archivbeständen auftun, die nicht allein durch einen regionalen Konnex, wie in diesem Falle Graz, sondern zusätzlich durch ein strahlkräftiges publizistisches Medium, wie hier die von Alfred Kolleritsch herausgegebenen manuskripte, miteinander verbunden sind.
Lisa Erlenbusch
1 Peter Handke: Versuch über den Pilznarren. Eine Geschichte für sich. Berlin: Suhrkamp 2013, S. 73 und 75.
2 Ebda., S. 77.
3 Verschriftlichte Erinnerung von Franz Weinzettl, vgl. E-Mail vom 25.9.2022.
4 FNI-WEINZETTL-L3.1.
5 FNI-KOLLERITSCH-2/W22. Die Passagen wurden in etwas abgeänderter Form publiziert, vgl. Peter Handke, Alfred Kolleritsch: Schönheit ist die erste Bürgerpflicht. Briefwechsel. Wien: Jung und Jung 2008, 290–294.