HELMUT EISENDLE: EIN HANDSCHLAG
„Handschlag. Die kurze Abwesenheit eines Vorurteils“. In: Sechzehn Bütten. Wien, Berlin 1993. 15 Bl. Aquarelle und 15 Bl. hs. Texte. 70×100 cm. Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung.
Mit einem hs. Text auf der Folgeseite:
Das Gedächtnis sitzt wie eine Larve vor einem Ameisenbären in der Grube. Der Bär lauert auf seine Beute. Jede Art von Eindruck hat gewissermaßen einige Rillen und Rinnen in die Grube. Kommt der erste Eindruck mit einem Vorurteil daher, muß er ohne Gnade in die Grube rutschen. Er fällt und fällt herein. Der Ameisenbär aber lauert.
Ein Handschlag ist die kurze Abwesenheit eines Vorurteils. Kaum ist er vorüber, wird er zur Larve und vom Ameisenbär gefressen. Auch wenn er schon in der Grube ist. Er wird zur Beute. Je größer das Interesse, desto größer die Beute. Und weil die Beute einen kräftigen Vorteil vermuten läßt, ist die Phantasie ebenso mildtätig wie die Erfindung.
Ein Händedruck, ein Handschlag ist der Beginn.
Zum Vorurteil.
Am 12. Jänner 2016 ist es 77 Jahre her, dass Helmut Eisendle in Graz geboren wurde: der Lyriker, Dramatiker, Erzähler, Essayist, Herausgeber, Hörspielautor, Librettist – und Maler. Ein Multitalent mit vielen Begabungen, ein Tausendsassa der Künste, der Orte, der Freundschaften, ein quirliger Schmetterlingsjäger, der seine Wort- und Satztrophäen aufspießte, um sie seinen Figuren in den Mund zu legen oder an den Kopf zu werfen. Mund und Kopf, Sprechen und Denken, das waren seine Pole, um die alles kreiste, gleichzeitig sein Gefängnis, radikalisiert in jenen inneren Reflexionsmonologen, aus denen sich seine ersten Gesprächsromane wie Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand oder Exil oder der braune Salon zusammensetzten.
Seine zweite Begabung, dokumentiert in bibliophilen Buch-Unikaten, versteht sich als Gegenstück zu seinen literarischen Ambitionen und mit ähnlicher Zielrichtung: Augenblicke entlang eines Erfahrungskontinuums einfangen, für einen Moment stillhalten und genau hinsehen und das sinnlich Wahrgenommene dann festhalten und als Ausgangspunkt für die sprachliche oder bildnerische Konkretisierung einer Vorstellung verwenden, die sich wieder in ein Bild verwandelt als Ausgangspunkt für einen erneuten Sprachwerdungsprozess: „Der Maler macht Gedanken zu Bildern, der Literat die Bilder zu Gedanken. Die weiße Magie der Kunst wendet sich damit gegen die schwarze Magie der Wissenschaft.“
Ein Programmschwerpunkt des Literaturhauses Graz mit dem Titel „Unter Eisendles Hut“, der Ende Jänner 2009 begann, erinnerte an den 2003 verstorbenen Autor – mit Lesungen, Filmabenden, Theateraufführungen sowie einer Ausstellung mit dem Titel „Der colorierte Irrtum oder Die Chronik der geistigen Wunder schimmert fahl und zweideutig“. Es öffnete sich ein Blick auf und in die Wunderkammer des Helmut Eisendle: Bild und Wort, Farbfläche und Letter, Eros und Logos, Rausch und Nüchternheit, Expression und Reflexion, eine Disziplinierung unbändigen Fabulierens im Literarischen, eine Versinnlichung von Gedanken, Gegenständen und Menschen im Malen. Als „Narr auf dem Hügel“ war der Mensch Eisendle dabei aber immer ein wenig abseits, ein Beobachter auch seiner selbst. Ein abrupt Verschwundener mit als „schwierig“ apostrophierten Texten, ein inzwischen als Geheimtip Gehandelter außerhalb jedes literaturbetrieblichen Mainstreams.
Gerhard Fuchs