Digitales Fotoarchiv Gerhard Roth
Website des digitalen Fotoarchivs von Gerhard Roth: https://gams.uni-graz.at/context:roth
[A]uf meiner Reise nach Amerika begann ich, die Photographie für meine Arbeit zu nutzen. Es war mir unmöglich, alles aufzuschreiben, was ich sah.1
Über Jahrzehnte hinweg entstand parallel zum schriftstellerischen Œuvre Gerhard Roths ein umfangreiches fotografisches Werk, das auf vielfältige Weise die literarische Praxis des Autors prägte. Die Kamera fungierte dabei nicht als bloßes Dokumentationsinstrument, sondern als eigenständiges Mittel der Recherche, der genauen Beobachtung und der ästhetischen Verdichtung – eine Extension, gar eine Prothese von Stift und Papier.
Roth selbst beschreibt den Übergang von einer begleitenden zu einer integrativen Praxis des Fotografierens, der sich auf die beiden Amerika-Reisen 1972 und 1973 datieren lässt, folgendermaßen: „Ich begann, nicht mehr nur zu photographieren, sondern integrierte die Photographie in meine Arbeit.“2 Besonders deutlich wird diese Haltung in der umfangreichen Recherche- und Reisefotografie, die Roth ein Leben lang begleitet hat. Auf Reisen – etwa nach Amerika, Ägypten oder Japan – war der Fotoapparat neben dem Notizbuch ein ständiger Begleiter. Die dabei entstandenen Bilder folgen keinen festen Regeln der fotografischen Arbeit, sondern einem aufmerksamen, zurückhaltenden Blick, der das Alltägliche ebenso einfängt wie das scheinbar Nebensächliche und Flüchtige, das Atmosphärische wie das Unsagbare:
Ich ging ganz nah mit der Kamera an die Gegenstände heran und versuchte gleichsam ihre Aura mitzuphotographieren, aber immer, indem ich nicht eingriff. Ich wollte unabhängig sein von photographischen Regeln und nicht etwas Besonderes machen, sondern das Besondere im Alltäglichen erkennen.3
Die Fotografien verstand Roth als „Photo-Notizen“, also als visuelle Aufzeichnungen, die nicht abgeschlossen, sondern prozessual angelegt sind. Sie bilden einen „Kulissenfundus für seine Romane“4, aus dem sich das literarische Werk speist. In dieser Funktion werden Bilder nicht lediglich erinnert, sondern aktiv weiterverarbeitet: Sie strukturieren Wahrnehmungen, konservieren Atmosphären und eröffnen serielle Ordnungen, die in den literarischen Texten erneut aufgegriffen werden. Die Literarisierung dieses fotografischen Materials lässt sich in einer Vielzahl von Romanen Roths nachverfolgen, in denen visuelle Eindrücke, räumliche Konstellationen und wiederkehrende Motive eine tragende Rolle spielen.
Aus der engen Verschränkung von fotografischer und literarischer Praxis entwickelt sich eine Poetik, in der Bild und Sprache gleichwertig nebeneinanderstehen. Fotografie verweist nicht bloß illustrativ auf eine erzählte Realität, sondern behauptet eine eigene ästhetische Präsenz. In der Synthese von Wort und Bild entsteht eine Darstellungsform zwischen Fakt und Fiktion, in der „die Realität durch das Schreiben poetisiert“ und die Fiktion im Gegenzug „durch das Bild authentisiert“ wird.5 Vor diesem Hintergrund gewinnt auch der fotografische Nachlass Gerhard Roths seine besondere Bedeutung.
Gerade die Doppelfunktion der Fotografie als verlängertes Gedächtnis bzw. Erinnerungserweiterung und insbesondere schriftstellerischer Materialspeicher war die Vorlage für die Konzeption des Digitalen Fotoarchivs Gerhard Roth. Dementsprechend ist das Webarchiv nicht bloß ein digitaler Speicherplatz für rund 40.000 Fotografien, sondern zugleich eine Plattform bzw. ein Instrument zur vielfältigen Erschließung des Bildbestandes, die vom literarischen Werk Roths über die analoge Ordnung des Archivbestandes am Franz-Nabl-Institut bis hin zu einer systematischen Beschlagwortung reicht.
Auf der Grundlage des am Franz-Nabl-Institut erschlossenen und bearbeiteten fotografischen Bestands publizierte Gerhard Roth zu Lebzeiten in Zusammenarbeit mit Daniela Bartens und Martin Behr insgesamt sechs umfangreiche Fotobücher. Mit circa zwei Dritteln der rund 60.000 Fotos aus dem Nachlass (ca. 40.000 Fotografien aus dem Zeitraum von 1977 bis 2017) wurde am Franz-Nabl-Institut unter der Leitung von Univ.-Prof. Dr. Klaus Kastberger im Rahmen eines drittmittelgeförderten Projektes innerhalb des Programms KONDE (Kompetenznetz Digitale Edition) von Mag. Mag. Bakk. Silvana Cimenti und Elisabeth Zehetner, MA, MA eine Datenbank erstellt. Für die webbasierte Langzeitarchivierung im GAMS-Repositorium der Universität Graz wurden die Digitalisate mit Unterstützung des Instituts für Digitale Geisteswissenschaften weiterverarbeitet und in eine Website implementiert. Die Fertigstellung der Benutzeroberfläche erfolgte durch Mag. Carina Koch, MA.
Über die Website gelangt man zu den Erschließungssystemen, mit denen die Fotodatenbank innovativ genutzt werden kann. Im Zentrum steht das „Wörterbuch der Bilder“, ein Thesaurus, der den Bestand über ein kontrolliertes Vokabularium systematisch strukturiert und inhaltlich zugänglich macht. Der Thesaurus umfasst rund 200 Schlagworte, die den einzelnen Fotografien in variierenden Kombinationen zugewiesen sind und deren zentrale bildliche Motive erfassen. Zur einfacheren Orientierung ist das Schlagwortsystem hierarchisch aufgebaut: Die Begriffe sind zunächst sechs übergeordneten Kategorien zugeordnet und innerhalb dieser weiter ausdifferenziert. Auf der dritten Ebene finden sich die einzelnen Schlagworte, die jeweils durch bündige Definitionen erläutert werden, die sowohl den Bedeutungsumfang als auch die konkrete Verwendung der Begriffe beschreiben. Auf Basis dieser Struktur eröffnet das „Wörterbuch der Bilder“ die Möglichkeit, durch den fotografischen Bestand systematisch zu navigieren, motivische Komplexe sichtbar zu machen und thematische Felder zu erschließen.
Zusätzlich zu dieser Systematisierung durch kontrollierte Vokabularien visualisiert die „Schlagwortwolke“ die statistische Gewichtung der im „Wörterbuch der Bilder“ vergebenen Begriffe auf einen Blick. Die Größe der einzelnen Schlagworte ergibt sich aus ihrer Häufigkeit innerhalb des Bestandes und macht damit dominante Motivfelder ebenso sichtbar wie randständigere Themen. Besonders prominent erscheinen Begriffe wie ‚Männer‘, ‚Frauen‘, ‚Menschen‘ und ‚Kinder‘, die auf die zentrale Rolle des Humanen und Sozialen im fotografischen Werk Roths verweisen. Daneben nehmen räumliche und topografische Kategorien wie ‚Landschaft‘, ‚Stadt‘, ‚Straße‘, ‚Haus‘ oder ‚Museum‘ eine hervorgehobene Stellung ein und verweisen auf ein starkes Interesse an gebauten wie natürlichen Umwelten sowie an Übergangsräumen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Die Schlagwortwolke fungiert damit nicht nur als navigationsunterstützendes Instrument, sondern auch als verdichtete visuelle Zusammenfassung der thematischen Schwerpunkte des Archivs, in der sich die motivische Struktur des fotografischen Gesamtbestandes in statistisch-semantischer Form abzeichnet.
Der Menüpunkt „Bestand am Franz-Nabl-Institut“ bildet die materielle Ordnung der Fotografien im Archiv digital ab. Die Digitalisate können hier in jener Gliederung durchgesehen werden, in der sie auch physisch am Franz-Nabl-Institut aufbewahrt sind, und machen damit die ursprünglichen Ordnungsprinzipien des fotografischen Bestandes nachvollziehbar. Die nach Werkkomplexen, Reisen und thematischen Zyklen benannten Einheiten – von den Roth-Portraits über geografisch gefasste Konvolute wie Amerika, Japan, Griechenland oder Ägypten bis hin zu stadtspezifischen Serien wie Wien, Amsterdam oder Venedig – spiegeln zentrale Arbeits- und Wahrnehmungsräume Roths wider. Diese Zugriffsmöglichkeit erlaubt es, die Fotografien nicht primär motivisch, sondern kontextuell und prozessual zu lesen und rückt damit die Entstehungszusammenhänge, serielle Logiken und archivischen Setzungen des Bestandes in den Vordergrund.
Die Suchfunktion stellt einen gezielten Zugriff auf den fotografischen Bestand über eine Reihe kombinierbarer Filter bereit. Neben einer Volltextsuche, die eine freie Recherche über den gesamten Datenbestand erlaubt, kann der Entstehungszeitraum der Fotografien eingegrenzt werden, um zeitliche Schwerpunkte und Arbeitsphasen sichtbar zu machen. Auf der Ebene der fotografischen Praxis lässt sich der Bestand nach dem Fototyp differenzieren – Analog-, Digital- oder Diafotografie – sowie nach Farb- und Schwarz-Weiß-Fotografie, wodurch mediale und ästhetische Entscheidungen vergleichend untersucht werden können.
Des Weiteren kann der Filter „Entstehungsort“ ausgewählt werden, während das Feld „Entstehungsort: Lokalität“ eine weiterführende Einschränkung auf konkrete Orte, Institutionen oder Räumlichkeiten erlaubt, etwa auf Bibliotheken, Museen oder andere kulturelle Einrichtungen wie z. B. die Nationalbibliothek oder das Kunsthistorische Museum in Wien. Auf diese Weise lassen sich sowohl geografische Bewegungen als auch wiederkehrende Schauplätze innerhalb des Bestandes nachvollziehen. Die Personensuche stellt einen eigenständigen, relational ausgerichteten Zugang zum fotografischen Werk dar. Über ein Dropdown-Menü kann gezielt nach Personen recherchiert werden, die den sozialen, literarischen und künstlerischen Netzwerken Gerhard Roths zuzuordnen sind. Auf diesem Weg gelangt man auch zu einer Vielzahl bemerkenswerter Portraitfotografien von Akteur:innen des Kunst- und Kulturbetriebs wie Peter Handke, Günter Brus oder Wolfgang Bauer, die Einblicke in die kulturellen Konstellationen eröffnen, in denen Roth sich bewegte. Darüber hinaus können die Schlagworte des „Wörterbuchs der Bilder“ zur inhaltlichen Eingrenzung herangezogen werden.
Unter dem Menüpunkt „Zuordnung literarisches Werk“ kann der fotografische Bestand gezielt über das literarische Œuvre Gerhard Roths erschlossen werden. Die Zuordnung der Fotografien zu konkreten Texten aus dem Entstehungszeitraum macht jene für Roth charakteristische Arbeitsweise sichtbar, in der fotografisches Material systematisch in den Schreib- und Rechercheprozess eingebunden ist. Ergänzend dazu eröffnet der Zugriff über die publizierten Fotobücher eine weitere Erschließungsebene, indem gezielt nach jenen Fotografien recherchiert werden kann, die in den einzelnen Bildbänden enthalten sind.
Die Detailansicht der Fotografien bündelt die zentralen Informationen zu einem einzelnen Objekt und führt Bildanzeige und strukturierte Kontextinformationen zusammen. Sie besteht aus einem Fotoviewer und einer übersichtlich angeordneten Darstellung der zugehörigen Metadaten. Diese umfassen Angaben zur Entstehungszeit, zum Entstehungsort, zum Fototyp, zur Serie, zu beteiligten Personen sowie zur fotografischen Urheberschaft. Die Beschlagwortung nach dem „Wörterbuch der Bilder“ ist ebenfalls in der Detailansicht ausgewiesen und macht die motivisch-semantische Einordnung der Fotografie transparent sowie weiterführend nutzbar. Darüber hinaus wird jeder Fotografie ein Permalink zugewiesen, der als persistenter Uniform Resource Identifier eine zitierfähige und langfristig stabile Referenz im GAMS-Repositorium sicherstellt. Ergänzend steht ein Link zur Metadatendatei im LIDO-Format zur Verfügung, sodass die Nachnutzbarkeit der Informationen in wissenschaftlichen und digitalen Kontexten gewährt werden kann. Angezeigt werden ausschließlich Fotografien, die von Gerhard Roth sowie von Senta Roth6 aufgenommen wurden. Bei Fotografien, deren Urheberrechte bei Dritten liegen oder bei denen Persönlichkeitsrechte betroffen sind, ist in der Datenbank lediglich die beschreibende Metadatenansicht zugänglich.
Aus Gründen des Personenschutzes ist die Benützung der Plattform derzeit nur mittels eines temporären Passwortes möglich, das vom Franz-Nabl-Institut auf Anfrage vergeben wird. Wenden Sie sich dazu bitte an Daniela Bartens! (daniela.bartens(at)uni-graz.at)
Informationen zur Nutzung des digitalen Archivs finden Sie hier: https://gams.uni-graz.at/archive/objects/context:roth/methods/sdef:Context/get?mode=terms
Sebastian Meißl
1 Gerhard Roth: Eine Expedition ins tiefe Österreich. Über meine Fotografie. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 14.9.1990.
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Robert Weichinger: Die Spirale der Gewalt. Zu Photographie und Filmarbeit von Gerhard Roth. In: Marianne Baltl und Christian Ehetreiber (Hg.): Gerhard Roth. Graz, Wien: Droschl 1995. (= Dossier. 9.) S.229-248, hier S. 233.
5 Uwe Schütte: Auf der Spur der Vergessenen. Gerhard Roth und seine Archive des Schweigens. Wien, Köln, Weimar: Böhlau 1997. (= Literatur und Leben. 50.) S. 33.
6 Von Senta Roth stammt eine beachtliche Anzahl an Fotografien und Portraits, die unter anderem Gerhard Roth selbst zeigen.