„ABSEITS, AUF DEN GLEISEN“ – Unveröffentlichte Fotostrecken zu Franz Weinzettls Schwellen-Text
Cover des ersten Foto-Buchs sowie 5 Fotos von Franz Weinzettl aus den Fotoessays zu „Abseits, auf den Gleisen“ in sechs Themen-Alben aus dem Vorlass von Franz Weinzettl am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Signatur: FNI-Weinzettl-6.3.5
Der 1955 in Feldbach geborene Franz Weinzettl wird spätestens seit seinem bislang letzten Buch „An der Erde Herz geschmiegt“ gern als einer der „großen Stillen“ (Kl. Ztg. v. 16.12.2015) unter den steirischen Autoren bezeichnet. Die leitmotivisch herbeizitierte „Bescheidenheit“ kann aber nicht über den durchaus selbst-bewusst rebellischen Verweigerungsgestus hinwegtäuschen, mit dem sich der Autor in seinen Projekten jenem medialen Betriebsgeklingel und dessen wechselnden Moden entzieht.
Weinzettls bislang erschienene zehn Bücher, vorwiegend Prosa, sind zu einem Gutteil in seiner südoststeirischen Herkunftsgegend angesiedelt, jener ländlichen Grenzregion im „toten Winkel“ zwischen der Steiermark, Slowenien und Ungarn. Immer wieder geht es in seinem Schreiben um die (ästhetische) Bewegung auf diesen (Herkunfts-)Raum zu, von der Stadt aufs Land, mit der Bahn auf den Gleisen oder im Gehen, sozusagen neben den Gleisen („Abseits, auf den Gleisen“, 2008), schauend, wahrnehmend, notierend; es geht um das Erzählbar- und damit überhaupt erst Sichtbarmachen gerade des Unspektakulären, etwa der Erscheinungsformen der Natur im Lauf der Jahreszeiten und eines Frauenlebens in und mit der Natur („Der Jahreskreis der Anna Neuherz“, 1988). Von den Schwellenregionen – zwischen Tag und Nacht, Gegenwart und Erinnerung, Tod und Leben, Ich und Welt, zwischen den Jahreszeiten und den Lebensaltern – aus aufs Ganze zu gehen, lässt sich als Intention ausmachen. Weinzettl wird darin auch zum Chronisten seiner südoststeirischen Herkunftsregion, jenes unspektakulären, ärmlichen Landstrichs, der sich in seinem Erzählen zur Weltgegend weitet.
Dass diese Annäherung stets auch von fotografischen Notizen begleitet war, wurde unlängst in der Jubiläumsnummer zu 60 Jahre „manuskripte“ durch die Erstpublikation einiger Fotografien aus dem „Anna Neuherz“-Komplex eindrucksvoll sichtbar (vgl. manuskripte (2020), H. 230, S. 19-22). Mit dem Ankauf des Vorlasses für das Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung 2021 werden Art und Umfang von Weinzettls Foto-Essays nun erstmalig in ihrer Gesamtheit erfassbar. Insbesondere der in sechs voluminösen Foto-Büchern – Weinzettl spricht von „Themen-Alben“ – zusammengestellte Bildbestand zu dem mehrjährigen Schreib- und Lebensprojekt „Abseits, auf den Gleisen“ ragt aus der Fülle der projektbezogenen Fotografien heraus – nicht allein wegen seines Umfangs (insgesamt ca. 2600 Fotos), sondern weil an ihm eine sich sukzessiv von der Literatur emanzipierende Entwicklung hin zu einer eigenen Kunstform ablesbar wird. Will man diese erfassen, so muss man sich zunächst die Rolle der Fotografie im Rahmen des Schreib-Projekts „Abseits, auf den Gleisen“ vor Augen zu führen.
Der 2008 in der Edition Korrespondenzen erschienene Band mit notizbuchartigen Aufzeichnungen ist, vertraut man den dort angegebenen Datierungen, zwischen dem 30. November und dem 12. Jänner, mehr als drei Jahre später, auf Bahnfahrten und „Gleiswanderungen“ auf oder abseits der 21 km langen, kaum mehr frequentierten Nebenstrecke zwischen der Bezirkshauptstadt Feldbach und dem Kurort Bad Gleichenberg und somit in unmittelbarer Nähe zu Weinzettls Kindheitsheimat Gossendorf entstanden. Ein unpublizierter Lebenslauf von 2008 im Vorlass nennt den „30. Oktober 2004“ als Termin der „1. Bahnwanderung entlang der Gleichenberger Bahnstrecke“, dies stimmt tatsächlich mit dem im Text genannten Datum (ohne Jahreszahl) überein. Entsprechend hatten beinahe ein Jahr vorher, also bereits im Herbst 2003, die Notizen von den Fahrten mit dem einen „Triebwagen“ auf der von der Einstellung bedrohten Strecke, häufig als einziger Fahrgast – „jede Fahrt da eine ‚Sonderfahrt‘“ (39) – eingesetzt. Und schon bald kommt auch das „Foto-Gewehr, geladen und entsichert“ (28) neben ihm liegend, zum Einsatz. „[A]ber entweder der Zug zu schnell oder er zu zögerlich, jedenfalls nur ein einziger ‚Schußversuch‘; alles andere ‚Wild‘ blieb unbehelligt (fürs erste) (28). Und jener erste Schuss gilt einem „Misthaufen“ samt majestätischem Hahn und Hühnerhofstaat – ein „schon sehr seltener Anblick“ und „sozusagen durchaus ‚im Preis inbegriffen‘“ (28), wie der Zugreisende augenzwinkernd, wohl auch ein wenig wehmütig angesichts der Machtverhältnisse am Hühnerhof notiert. Unnötig zu betonen, dass sich ein solches Foto unter den in „Foto-Buch 1“ eingeklebten Abbildungen findet. Doch um bloße Abbildung geht es Franz Weinzettl nicht. Kein „Freilichtmuseum“ vergangenen Lebens mit seinen pittoresken „Hauptattraktionen“ (28) soll hier eröffnet werden. „Abseits, auf den Gleisen“ liest sich vielmehr wie eine ganz auf das eine Ich zugeschnittene Wahrnehmungseinübung, die über das ritualisierte, oft den widrigsten Umständen – der eigenen Ungeduld und Gier, schlechten Witterungsbedingungen, kläffenden Hunden, lautlos nahenden Zügen oder den selbstimaginierten verständnislosen Blicken der Anderen – abgerungene Gehen und Schauen eine Öffnung bewirkt, die das Ich überhaupt erst empfänglich macht für jene Erlösung, von der im Text leitmotivisch die Rede ist. Wie die Älteren in jenen ländlichen Regionen seiner Herkunftsgegend früher am Sonntag den Gottesdienst besuchten, so verrichtet der Erzähler am Wochenende (aus seinem städtischen Alltagsleben) wiederkehrend seinen „Dienst“ an der Strecke, der zugleich Außendienst ist und Innenschau. Was er wahrnimmt, will er festhalten, es notierend und fotografierend „in Sicherheit“ (88) bringen, vorzugsweise das Unscheinbare, Randständige, vom Verschwinden Bedrohte und gerade noch Vorhandene. Aber es ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel und er wird darüber zum Jäger, schießt in einem immer schon verlorenen Wettlauf gegen die Zeit Foto um Foto, könnte doch potenziell alles bedeutungsvoll werden, ein möglicher „Fingerzeig“ (vgl. 90) auf einer noch unbestimmten Suche und muss daher „für immer auf ein Foto gerettet“ (85) werden. Doch der dokumentarisch-distanzierte Zugang erweist sich als genauso trügerisch wie jene Orgien des „wie“, Festspiele der Möglichkeitsformen, mit denen der Text einsetzt, die durch Vergleiche eins mit dem anderen in Beziehung setzen, die Dinge auf ihr Erzählpotenzial hin abklopfen und ein Netz phantasmagorischer Verschiebungen über den Text werfen.
Erst als er die „Rettung“ gerade der unscheinbaren Dinge durch deren Aufzeichnung auch als Selbstrettung begreift, offenbaren die Funde, die er bei seinen Wahrnehmungsprojekten „dingfest“ (Gerhard Melzer) macht und fallweise „als Glücksbringer“ (57) mit nach Hause nimmt – rostige Schwellennägel und -schrauben etwa oder Blätter und Federn, die so zu phallischen Dingsymbolen zwischen Schrauben und Schreiben werden –, ihre wahre Bedeutung als Zeichen innerhalb eines subjektiven Koordinatensystems einer erotischen und zugleich poetischen Glückssuche. Vorgefundene Zeichen, auf die nun wiederum der „Gleisschauer“ (85) und Schwellengeher seinerseits mit „seinen Zeichen“ (216) – Blatt-Botschaften im herzförmigen Baumwurzel-„Postfach“ (vgl. 170; 216) oder einem dreiteiligen, an der Unterseite mit drei Worten (man kann sich denken, welchen) beschriebenen „Liebessteintürmchen“ (173) – antwortet und dabei im Zauberwald hinter der Bahnhaltestelle seine eigene, seriell „befahrene“ Strecke mit eigenen Haltestellen errichtet. Bis schließlich im passionierten Dienst an der Sache Kommunikation endlich möglich wird, die Liebesbotschaften „abgeholt“ werden und wie im Märchen alle Wünsche in Erfüllung gehen, die Geschichte (poetische) Realität wird: „Wieder sein Tagtraum, er hätte Satz um Satz hintereinander reihen können wie Gleisschwellen, alle durch so etwas wie zwei Schienen miteinander verbunden. ‚Abfahrt‘ von dem Satz Soundso, ‚Ankunft‘ bei dem Satz Soundso. Die eine Schiene er: Und die andere? (Jene anfangs nur phantasierte junge Frau, die eines Tages sozusagen ‚während der Fahrt‘ leibhaftig zustiege?)“ (31) Jene Geschichte also, die der Erzähler „gerne gelesen hätte, wären nur die Bahnstrecke, der Zug, die Landschaft und die Jahreszeiten im Mittelpunkt gestanden, nicht das Paar“ (153), jene Geschichte, in der er sich gerade befindet.
Fotografien von allen im Text mit Bedeutung aufgeladenen Motiven aus dem Märchenwald – vom kultischen „Drei-Steine-Turm“ (216) über das „Blatt in der Wurzelhöhle im Hohlweg“ (216) bis zur Kröte in ihrem Stammgabelungs-„Thron“ (197) – finden sich im ersten Foto-Buch, doch diese Fotos können ihre Geschichte nicht selbst erzählen. Unklar, ob die Motive vorgefunden (wie die Kröte) oder (für das Foto) inszeniert wurden – wie im Fall einer Abbildung jener beiden Birkenäste, die der Erzähler „mit Birkenrinde zu[deckt] – wie ein schlafendes Liebespaar“ (226). Erst wo die im Text anklingende Entwicklung vom kauzigen Einzel-Gänger und manischen Spurenleser zum Märchenglück eines Berührt- und Involviert-Werdens mit den der Fotografie eigenen Möglichkeiten erzählt und – metaphorisch gesprochen – das distanzierte „Foto-Gewehr“ zum zwar immer noch martialischen, aber körpernahen „Schwert“ (151) wird, können sich die fotografischen Blick-Fänge von den „Blickfang-Notaten“ (Harald Miesbacher) lösen und werden zu einer eigenen Kunstform: „Er fotografierte: den Schatten des Zugs (ein immer noch ergiebiges Thema); das Gleis (da schon sich Wiederholendes); die in den Rückspiegeln gespiegelte Landschaft (nie sinnlos, wie ihm schien, jedenfalls ein ganzes Jahr so festhaltenswert); und Stilleben und Schattenbilder in der Fahrerkabine (sein eigener Schatten manchmal mit eingeschlossen); und so weiter und so weiter.“ (91)
Immer dort, wo auf den Fotografien Dinge aufeinanderprallen und miteinander in Kontakt treten, Schwellen und Übergänge sichtbar werden, etwa zwischen Festem und Beweglichem, verlieren die Bilder ihren archivarisch-dokumentierenden Abbildcharakter und beginnen selbst beziehungsweise für sich zu sprechen – wie der einzelne Löwenzahn neben dem Gleis oder der Grashalm, der seinen Schatten auf die Schienen wirft. „Immer weckte“ nämlich „alles Gespiegelte eher den Impuls in ihm zu fotografieren als das Ungespiegelte“ (30), und so finden sich in den sechs Foto-Büchern eine Vielzahl an Blicken durch spiegelnde, Außen und Innen überblendende (Zug-)Scheiben, Schatten werden geworfen und im Bild festgehalten, und insbesondere die umfangreiche Sammlung an Rückspiegel-Fotografien ragt wie eine Poetik in nuce aus dem Gesamtkonvolut. Im Vergleich etwa zu Gert Jonkes Erzählung „Schule der Geläufigkeit“, wo die im Garten aufgestellten Bilder genau jenen Wirklichkeitsausschnitt abbilden, den sie verdecken, ermöglicht der Blick in den Rückspiegel, der das hinten Liegende, das Hinterland, ausschnitthaft wie ein gerahmtes Bild vor Augen führt, eine perspektivische Überblendung zweier unterschiedlicher Wirklichkeitsbereiche. „Er fotografierte diesmal (ausnahmsweise) lieber ins Zukünftige (in die Fahrtrichtung) als ins Vergangene (gegen die Fahrtrichtung)“ (30), heißt es einmal im Text. Mit den Rückspiegel-Fotos lässt sich eine (utopische) Verschränkung beider Blickperspektiven verwirklichen, die eine solche Entscheidung obsolet macht. Das mag auch die Fülle an fotografischen Rückspiegel-Experimenten erklären, welche Weinzettl noch über das Erscheinen des Buchs hinaus fortgesetzt hat, wie die letzten beiden mit „2009“ beschrifteten Foto-Bücher zeigen. Zu den Experimenten mit den Blickperspektiven kommen dort noch solche mit unterschiedlichen (Zug-)Geschwindigkeiten und der daraus resultierenden Unschärfe hinzu. Wobei sich eine Entwicklung in Richtung zunehmender Abstraktion abzeichnet, welche die fotografische „Landgewinnung“ vom Äußeren immer mehr in die subjektiven Innenräume zu verlagern scheint, bis auch noch die Fotografie selbst als Hilfsmittel unnötig wird. „Wieder einmal plante er, das nächste Mal nicht zu fotografieren, sondern absichtslos umherzugehen, nur wahrzunehmen, zu phantasieren, zu träumen. Die Fotoalben waren ohnedies schon alle fast voll.“ (91)
Die prall gefüllten Foto-Bücher doch wieder aufzuschlagen und Weinzettls fotografische Strecken-Schau mit ihren zeichenhaften Einzelheiten, mit den unzähligen Blatt-, aber auch Laubfotos, den Schatten-, Schwellen- und Spiegel-Bildern im Rahmen der vom Erzähler „öfter phantasierten Schwellen-Ausstellung in irgendeinem modernen Museum“ (207) sichtbar zu machen, rückt mit dem Erwerb des Vorlasses von Franz Weinzettl durch das Literaturhaus Graz in den Bereich des Möglichen. Möge das Märchen wahr und die poetische Realität in einer echten Ausstellung Wirklichkeit werden.
Daniela Bartens