Michl, wer bist Du eigentlich? Michael Vodopiutzʼ Geschichten von der Seele
Typoskript zum Textzyklus „Fünfzehn Geschichtchen von der Seele“ von Michael Vodopiutz (1949–2002), 83 Bl. inkl. eh. beschriftetem Umschlag, aus dem Teilnachlass Michael Vodopiutz am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung (FNI-Vodopiutz-1.4.1); Kopie einer Fotografie aus Gedichtsammlung (FNI-Vodopiutz-1.1.3); Kopie von Zeitungsausschnitten 1989 aus dem Nachlass Werner Schwab (FNI-Schwab-4.1.4.2.14)
Im März 1989 traten zwei Männer erstmals im Rahmen einer Lesung als Autoren im Forum Stadtpark auf. Die Neue Zeit berichtet darüber, man hätte an jenem Abend einen „hochkarätigen Übertreibungskünstler und urkomischen Vortragenden“ erlebt, der das Publikum mit „tiefschürfenden Botschaften und aberwitzigen Einlagen“ begeisterte. Beim anderen Vortragenden und seiner „Sprach- und Fleischhauerei“ hätten hingegen „eher rohe Satzschnitzel“ dominiert.1 Der andere war Werner Schwab.
Wer war jener „hervorragende Sprachakrobat“2, der nach diesem akklamierten Auftritt weitgehend aus dem literarischen Leben und Gedächtnis verschwunden ist? Dass der 1949 geborene Grazer Michael Vodopiutz bei der NZ besonderen Eindruck hinterlassen hat, mag auch mit seiner Vorgeschichte als Mitarbeiter der Zeitung zu tun haben. Nach einem nicht abgeschlossenen Studium der Germanistik und Anglistik/Amerikanistik hatte er für die Zeitung Kulturberichte, vor allem Musikkritiken, geschrieben, später tat er dasselbe für die Steirerkrone. Vom Thema seiner geplanten Dissertation, dem österreichischen Schriftsteller Theodor Däubler, entlehnte er den Vornamen seines dabei genutzten Pseudonyms Theodor Uz, kombiniert mit dem Ende des eigenen Nachnamens. Vodopiutz war aber auch intensiv schriftstellerisch tätig: Anfang der 1980er veröffentlichte er im Jugendmagazin perplex,3 1986 produzierte der ORF Steiermark sein Hörspiel Büblerstund und 2001, im Jahr vor seinem Tod, erschien eines seiner Gedichte in der Anthologie hör dich kichern4. Dass es sich dabei um eine, wie es im Untertitel heißt, Sammlung von Gedichten „von seelisch kranken Menschen“ handelt, verweist auf einen entscheidenden Punkt von Vodopiutzʼ Biografie: Im Laufe der 1980er wurde sein Leben zunehmend von psychischen Problemen bestimmt, immer wieder führten sie ihn auf die Psychiatrie, im Alter von 40 Jahren war er frühpensioniert. Und so präsentiert er 1989 bei seiner Lesung im Forum Stadtpark auch einen besonderen literarischen Blick auf das quälende Unglück des Einzelnen und die für ihn bestimmenden Mechanismen der Gesellschaft.
An jenem Abend las Vodopiutz aus Fünfzehn Geschichtchen von der Seele, einem Textzyklus, der als 83-seitiges maschinschriftliches Typoskript im Teilvorlass am Franz-Nabl-Institut überliefert ist. Geschichten im Sinne von Erzählungen darf man sich hier aber nicht erwarten. Die Texte notieren „in polyphon erweiternden Variationen“, wie Gisela Bartens formuliert, grenzenloses Alleinsein, das mit Namen bevölkert sei, „denen der Instrumentator in ‚panischem Humor‘ Stimmen zuteilt“.5 Über die zentrale Gestalt, die die 15 Texte des Zyklus verbindet, erfahren wir mittels fortgesetzter Passiv-Formulierungen Verdrießliches, „er sei verzweifelt, verzweifelter und noch verzweifelter“.6 Schon diese kurze Passage enthält nicht nur das markante Leiden des namenlosen Protagonisten an der Welt, sondern auch ein ästhetisches Prinzip des Textes, der dieses Unglück durch Wiederholung und Variation beschwört, weil es (anders) nicht steigerungsfähig erscheint. Den fremden Zuschreibungen, die ihn als schlechten Umgang, beruflichen Versager und egoistischen Zyniker zeichnen, setzt er seine Betrachtungsweise entgegen, die in der „Fickerwelt aber […] als Selbstmitleid abgetan“ (GS, 1) würde. Erklärungen von verschiedenen Seiten erklären nichts, Ratschläge erscheinen nur vermeintlich wohlmeinend, „er“ bleibt in einer dämonischen Welt der „mathematischen“ Quälerei und unverstandenem Aufbegehren gefangen. Die Hauptfigur, die nicht direkt spricht, während ihre Ansichten ebenso wie Erklärungen und Beurteilungen anderer im Passiv referiert werden, steht stets im Zentrum des Textes, dessen distanzierende Anlage sich selbst unterläuft, sodass alles sehr unmittelbar wirkt. Das zugrundeliegende literarische Programm wird mehrmals direkt angesprochen: Was hier geboten wird, sei weniger vergnüglich als aufrüttelnd, als Bekenntnisliteratur aus der Mode, als Übertreibungskunst, radikaler als die anderer, eine Kritik des ganzen Universums und insgesamt ernst zu nehmen und nicht, wie bisher geschehen, beiseitezuschieben.
In den Geschichtchen von der Seele führt Vodopiutz eine weitere Gestalt ein, die neben der Schriftsteller- und Zentralfigur zu einer fixen Größe seiner Texte werden sollte. Was ihm zunächst als „die Silbe Mu“ zugeflüstert wird, überwältigt ihn bald als „Vision von Urmutter Mu“ (GS, 32). Diese Gestalt wird für praktisch alle späteren Werke bestimmend, in manchen wie dem englischen Radio-Drama Who is the Moo? oder dem über 400seitigen Roman Die Mu will Pop-Star werden sogar zum Hauptthema. Die Mu, das ist eine vom Protagonisten des jeweiligen Textes – sei es „Er“, der „Schattenritter“ oder der „Michl“ – eingebildete Positivfigur, die alles in einem ist, „Schutzengel, Zwillingsschwester, Freundin und Ewige Geliebte“7. Rund um die Mu entwickelt sich schließlich ein ganzes Glaubenssystem, der Muismus, zu dessen Grundsätzen eine vegetarische Lebensweise, das Vermeiden des Zertretens von Kleinstlebewesen, der Kampf gegen Hierarchien und die „Geile Trottelwelle“, die Ablösung mathematisch exakter Quälerei durch eine neue Happy-End-Programmierung und letztlich der Bau der Planetenbombe und die humane Auslöschung der Menschheit gehören. Der jeweilige Protagonist, allen voran Michl aus Die Mu will Pop-Star werden als der erste und bisher einzige Muist, bemüht sich um die weltweite Durchsetzung dieser (übrigens matriarchalen) Weltanschauung als Konzept für ein vernünftigeres Leben.
Mehr noch als Verkörperung dieser global durchzusetzenden Weltanschauung ist die Mu aber die Möglichkeit zumindest zeitweiligen individuellen Glücks angesichts gesellschaftlicher Ablehnung und beeinträchtigender Krankheit. „Ich sei von Idioten umgeben, aber IN mir sei die MU“ (MU, 134), heißt es da, und dass diese sich als Antwort auf verzweifelte Fragen und Selbstanalysen offenbart habe: „Die MU habe Dich auf Erden glücklich gemacht“ (MU, 229). Im persönlichen Bekanntenkreis hingegen gelte die Mu „nur als Ausgeburt der Phantasie eines geistig nicht Gesunden“ (MU, 373), ja als „HIRNGESPINST eines schizophrenen Psychopathen […], der sich diese Welt sozusagen zurechtfrisiere“ (MU, 116).
So machen sich Vodopiutzʼ Texte in ihrer spezifischen Vermittlungsweise durch von anderen bzw. als fremd referierte Zuschreibungen auf dessen psychische Krankheit hin durchsichtig. Schon in den Geschichtchen von der Seele heißt es, „er“ erlebe Schriftstellerei „als eine Art negative Therapie […], bei der seine Verstörung Konturen annehme“ (GS, 43). In einem Brief in den Monaten vor seinem Tod wird der Autor ganz deutlich: „Ich glaube nach nunmehr 30 Jahren Arbeit als Schriftsteller, daß ich zu meiner Krankheit in dieser ‚gesunden‘ Welt stehen muß“, schreibt er, denn er habe „in all den Jahren gelernt, meine Psychose als Mittel der Erkenntnis des sogenannten tatsächlichen Sachverhalts zu sehen“.8 Oder in der literarischen Form des Romans: „Du schreibst als manisch-depressiver schizophrener Psychopath Deine Autobiographie, also eigentlich eine Art Tagebuch, in dem Du berichtest, wie weit Du in Deiner Suche nach dem ‚tatsächlichen Sachverhalt‘ gekommen bist“ (MU, 39). Die Figur des Vaters, der im Roman die gemeinsten Angriffe auf den Protagonisten zugeschrieben werden, besteht denn auch mehrfach darauf, dessen Notizen wären nichts als „Lektüre für Deine Irrenärzte“ (MU, 193).
Die Geschichtchen aus der Seele von 1989, die Tagebuch-Notiz eines Psychopathen, die Vodopiutz 1999, zehn Jahre nach seinem ersten Auftritt dort, erneut im Forum Stadtpark präsentierte, und der lange, vieles direkt ansprechende Roman Die Mu will Pop-Star werden von 2001 ließen sich leicht als Dokumente der Krankheit interpretieren, die nun im Archiv gelandet sind und Fragen nach dem Umgang mit den „Fragilitäten und Verletzlichkeiten des menschlichen Lebens“9 zwischen Erkenntnisgewinn, Durchleuchtung und Entblößung aufwerfen. Dann wäre die Mu die Beschreibung eines ‚Berührtsein-Syndroms‘, die literarische Tätigkeit Folge von Wortanfällen, Rastlosigkeit und dem Drang zur ‚Objektivierung‘ und die fortgesetzte Variation von Inhalten, Konstellationen und Motiven bloß ‚Stereotypie‘, wie sie Leo Navratil in seinen Überlegungen zu Schizophrenie und Dichtkunst beschreibt.10
Eine solche Lektüre würde aber Gefahr laufen, den literarischen Verfahren und dem hohen Reflexionsgrad der Texte nicht gerecht zu werden. Die fortgesetzten Wiederaufnahmen von Personen, Ideen und Formulierungen und ihre ständige Variation innerhalb von Texten und über Text- und Gattungsgrenzen hinweg ist nämlich einerseits bewusst eingesetztes literarisches Prinzip, andererseits ebenso reflektierte werkpolitische Notwendigkeit. Vodopiutz, der Musikkritiker und kurzzeitige Musiklehrer, inszeniert seine Lesungen nicht nur als Sprechgesänge und „ungewöhnliche Leseperformance“11, er versieht Texte mit Hinweisen zu Sprechweisen und Betonung und erstellt Tonbandaufnahmen seiner eigenen Umsetzungen. Kein Wunder also, dass er in seinen Texten keine platten Wiederholungen sieht, sondern diese als „Musikstücke mit gelegentlichen Leitmotiven“ (MU, 310) versteht.
Zur Variation als literarisch-musikalischem Prinzip tritt die Variation als werkpolitische Notwendigkeit, nämlich als Maßnahme gegen die Nicht-Beachtung als Schriftsteller. Die Geschichte vom akklamierten Auftritt des Autors 1989 im Forum Stadtpark ist nicht vollständig ohne die Verwunderung darüber, dass der Geschichtenzyklus unveröffentlicht blieb. „Michael Vodopiutz kann man nur bald einen Verleger wünschen, damit er nicht weiterhin wie im Forum-Keller seine 83 Seiten schweren Mappen um 20 Schilling ‚verschenken‘ muß“,12 meint Elisabeth Willgruber-Spitz, und auch anlässlich der zweiten Lesung zehn Jahre später bezeichnet sie fehlende Publikationsmöglichkeiten als „mehr als trist“13. Und so läuft der Autor in immer neuen Versuchen gegen die drohende Nicht-Beachtung an, schreibt Lyrik, Dramen und Hörspiele, kurze Prosa und Romane. Mitte 2001 will er ein deutschsprachiges Hörspiel und ein englisches Filmdrehbuch einreichen, sein englischsprachiges Hörspiel Who is the Moo? hat er „nach England, New York, Indien und nach Hongkong geschickt“.14 Ausgelöst habe den erneuten Arbeitseifer „die neuerliche Ablehnung von zwei meiner Theaterstücke. Ich denke mir, DAS war nicht gut genug, so muß halt was anderes her!“15 Auch der umfassende Roman Die Mu will Pop-Star werden gibt sich in der Einleitung als notwendige Variante zu erkennen, um das Scheitern abzuwenden: „Meine Erfolgslosigkeit […] veranlaßte mich, ‚es‘ einmal mit einem Roman zu versuchen.“ (MU, 1) Um der Mu zum Popstar-Status und dem Muismus zum Durchbruch zu verhelfen, bleibt nur noch, „einen Bestseller zu schreiben, der die kulturelle Entwicklung in dieser Welt entscheidend beeinflussen müßte“ (MU, 321).
Wer angesichts dieser Hoffnungen von naivem Optimismus alarmiert ist, wird im selben Werk eines Besseren belehrt. Dass dieser Versuch aus vielerlei Gründen gewagt, wenn nicht zum Scheitern verurteilt ist, reiben die verschiedenen Figuren des Romans dem Michl immer wieder unter die Nase. Manche aber stellen sich eindeutig auf seine Seite und benennen das mangelnde Interesse, das Unverständnis der Mitmenschen und deren unwürdige Ansprüche an den Autor und seine Werke als nachvollziehbare Zumutung. Gegen die bestechende Argumentation, eingebettet ins spezifische literarische Verfahren mehrfach verschobener Beurteilungen und unterschobener Erklärungen, bleibt jedenfalls nichts einzuwenden:
Ach Michl, wie UNVERSCHÄMT man doch zu Dir ist! Du entlarvst Deine Mitmenschen als herzlose Fleischfresser und wirst beschuldigt, Dich unklar auszudrücken; „Die Menschen verstehen den Ausdruck GEILE TROTTELWELLE nicht“, wagte ein Kretin zu Dir zu sagen und kam sich gewaltig dabei vor … höflich wie Du bist, fragtest Du, was der Kretin nicht verstehe: Das Wort GEIL, das Wort TROTTEL oder das Wort WELLE […]. (MU, 78)
Stefan Alker-Windbichler
1 Elisabeth Willgruber-Spitz: Forum: Lesung über „die furchtbarst traurige Welt“. In: Neue Zeit (Graz) vom 11.3.1989, S. 29.
2 Ebd.
3 Vgl. Michael Vodopiutz: Todesmut. In: perplex 5 (1981), Nr. 2, o. S.
4 Vgl. das titellose Gedicht von Michael Vodopiutz in: Hör dich kichern. Gedichte von seelisch kranken Menschen. Hrsg. von Hermine Trost, Heike Kriegbaum und Michael Lehofer. Graz: Landesnervenkrankenhaus Siegmund Freud 2000, S. 100.
5 Gisela Bartens: Frisches Autorenblut. In: Kleine Zeitung (Graz) vom 12.3.1989, S. 44.
6 Michael Vodopiutz: Fünfzehn Geschichtchen von der Seele. FNI-Vodopiutz-1.4.1, Bl. 1. In der Folge mit Blattzählung zit. als: GS.
7 Michael Vodopiutz: Die Mu will Pop-Star werden. FNI-Vodopiutz-1.3.5, Bl. 183. In der Folge mit Blattzählung zit. als: MU. Die hier als Titel genutzte Frage „Michl, wer bist Du eigentlich?“ stammt aus diesem Werk (Bl. 401).
8 Michael Vodopiutz an Elfriede Grünzweig, Brief vom 17.12.2001, Graz, 1 Bl. hs. FNI-Vodopiutz-2.1.
9 Lina Maria Zangerl: Durchleuchtetes Leben. Gerold Foidls Krankengeschichte im Archiv. In: Verschachtelt und (v)erschlossen. Gefühlserkundungen im Archiv. Hrsg. von Hanna Prandstätter und Stefan Maurer. St. Pölten: Literaturedition Niederösterreich 2023, S. 177–193, hier S. 179.
10 Leo Navratil: Schizophrenie und Dichtkunst. München: dtv 1986. Vgl. S. 17–23 über Wortanfälle, 52f. übers Berührtsein-Syndrom, 61f. zur Objektivierung und 53f. zur Stereotypie.
11 Bartens, Frisches Autorenblut.
12 Willgruber-Spitz, Lesung über „die furchtbarst traurige Welt“.
13 Elisabeth Willgruber-Spitz: Forum und Komisches. An der „Front“ gibt’s doch noch Hoffnung … In: Kleine Zeitung (Graz) vom 8.5.1999, S. 86.
14 Michael Vodopiutz an Walter Grünzweig, Brief vom 28.6.2001, Graz, 2 Bl. masch. mit eh. Unterschr. Beilage zu Who is the Moo?, FNI-Vodopiutz-1.2.6.
15 Ebd.