PETER ROSEI: BEITRÄGE ZU EINER POESIE DER ZUKUNFT
Typoskriptblatt mit hs. Korr. einer frühen Fassung aus dem Konvolut „Peter Rosei: Beiträge zu einer Poesie der Zukunft. Grazer Poetikvorlesung“, das div. hs. Notizen, div. Vorfassungen (gebündelt als „Promemoria Grazer Vorlesung“ und „Poetik-Vorlesung & anderes theoret. Material“) sowie die Reinschrift in Typoskriptform mit hs. Korr. und Erg., undat. [1995], pag. 1-55 enthält. Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung
Peter Rosei hielt seine Poetikvorlesung im Sommersemester 1995 als zehnter Autor nach Klaus Hoffer (Methoden der Verwirrung, 1986), Jürg Laederach (Der zweite Sinn oder Unsentimentale Reise durch ein Feld Literatur, Suhrkamp 1988), Michael Scharang, Julian Schutting (Zuhörerbehelligungen, 1990), Urs Widmer (Die sechste Puppe im Bauch der fünften Puppe im Bauch der vierten und andere Überlegungen zur Literatur, 1991), Anselm Glück, Evelyn Schlag (Keiner fragt mich je, wozu ich diese Krankheit denn brauche, 1993), Ilma Rakusa (Farbband und Randfigur, 1994) und Franz Josef Czernin in der vom Grazer Germanistik-Institut gemeinsam mit dem Franz-Nabl-Institut seit 1985 jährlich veranstalteten, international renommierten Reihe der „Grazer Poetikvorlesungen“, die bis zur Jahrtausendwende existierten und großteils im Droschl-Verlag publiziert wurden.
Roseis Beiträge zu einer Poesie der Zukunft (1995) formulieren eine offene Poetik, wie sie die Texte spätestens ab dem Roman Die Milchstraße (1981) über den in Art eines Flügelaltars stereoskopisch aufgebauten 5 bzw. 6-teiligen 15.000 Seelen-Zyklus (1984-88), den kaleidoskopischen Suchbild- und Großstadtroman Rebus (1990) bis zu den eben erschienenen Wiener Dateien (2016), einer Kassette mit den jüngsten fünf Wien-Romanen (2005-14), in Abwandlungen zeigen. Schreiben ist für Rosei „nicht nur Ausdruck, sondern die Realisierung des Denkens“ (Walter Benjamin), eines Denkprozesses, bei dem der Künstler „jede Sicherheit“ aufgibt, jede Einsicht immer wieder neu ästhetisch hinterfragt, im doppelten Wortsinn „alles aufs Spiel setzt“: „Schauen, denken, erinnern“, das Chaos der ungebändigten Anschauung und den ordnenden Zugriff des jeweiligen Kalküls in immer neuen Spielen, nach immer neuen Regeln zum Dingfestmachen von Realitätspartikeln und deren Anordnung in „mit Möglichkeiten aufgeladenen Bildern“ zusammenzudenken, „Bild und Idee“ schreibend in eins zu setzen, bis „die Anschauung schon die Lehre“ ist und „im Kunstwerk für Momente der Stoff des Lebens leuchtend erscheint“, lautet folglich der utopische Anspruch. Dichtung bewege sich „auch“ im „Ahnungsraum“, wo das Nicht-Rationale, das im wissenschaftlichen Zeitalter Ausgegrenzte, Idiosynkratische, die Abweichungen, Umwege, Fehler, Zufälle ihren Ort finden, und dort, wo in der globalisierten Markt- und Mediengesellschaft der inhaltsleere „Funktionalismus“ des „reibungslosen Ablaufs“ und der Profitmaximierung im Zentrum stehen, wendet die Kunst nach Rosei sich widerständig dem „Stoff des Lebens“ in all seinen Konnotationen von Materie, Substanz, aber auch Lebendigkeit und Veränderbarkeit zu. Der spezifisch österreichische Relativismus, Wittgenstein und der Wiener Kreis, Schumpeter, Musil, Broch, Feyerabend, aber auch zahlreiche russische Theoretiker, insbesondere aus dem Umkreis des Formalismus, haben u.a. Pate gestanden.
Das vorliegende Blatt zitiert im Mittelteil einen zentralen Gedankengang, der trotz der hs. Streichung im Typoskript wortgleich auf Seite 55 ins Buch übernommen ist. Roseis Annahme einer „stereoskopischen“ Anordnung der Zusammenhänge richtet sich mit Deleuze/Guattaris „Rhizomtheorie“ gegen monozentrisch-hierarchische Strukturen mit ihrer Vorstellung einer zielgerichtet linearen Abfolge. Das räumliche Modell des Wurzelbaums, in dem potentiell alles mit allem Verbindungen eingehen kann und muss, rechtfertigt Eigen- und Fremdzitate, Wiederaufnahmen, aber auch lose Enden.
Das Blatt liefert in der Zersplitterung der einzelnen Beobachtungen und deren von der publizierten Fassung abweichender Anordnung aber auch ein Beispiel für Roseis – eigene Denkprozesse nachbildende – tastende Arbeitsweise, in der Einzelelemente probeweise in unterschiedliche Kontexte gestellt werden, in denen sie mit den jeweiligen Umgebungen je eigene „Maschinen“ bilden.
So kommen etwa zahlreiche Textstücke aus dem abgebildeten Blatt mehr oder weniger wortgleich auf den Seiten 55, 56 und 71 im Buch vor, während andere Teile, wie etwa die gesamte letzte Passage, nicht mehr auftauchen. Der erste Absatz und das „Adhoc zur Frage des Daheim“, die in der Buchpublikation fehlen, haben aber in den 2015, also 20 Jahre später, publizierten Band „Brown vs. Calder. Gedanken zur Dichtkunst“ Eingang gefunden (S. 51 bzw. S. 12), der zahlreiche Gedankengänge der Grazer Poetikvorlesung aufnimmt, weiterspinnt und unter stärkerer Betonung der Erinnerungsdimension neu kontextualisiert. Die Dichterwerkstatt zeigt so ihren Werkstoff-, das Typoskript – bei Rosei aber auch noch der fertige Text – seinen Schwellencharakter.
Daniela Bartens