GERHARD ROTH: MIKROSKOPISCHE PRÄPARATE
Verschließbares schwarzes Kästchen, 26,5 x 17,5 x 4,5 cm, mit Aufschrift „Mikroskopische Präparate“ mit 96 gläsernen Objektträgern mit biologischen Präparaten, Vorlass Gerhard Roth am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung.
Mikroskope machen für das menschliche Auge Unsichtbares sichtbar, zugleich wird normalerweise Sichtbares durch die Vergrößerung unkenntlich. Bereits für den dreijährigen Gerhard Roth, der nach Kriegsende eine Zeitlang in der Wohnung seiner Großeltern in Graz-Gösting lebte, zählte das verpackte und im Schrank verborgene Zeiss-Mikroskop des Arzt-Vaters zu den „magischen Gegenständen“. Der nächtens im Lampenschein über das Mikroskop gebeugte Vater – ein frühes Erinnerungsbild. Der Sohn hält das Mikroskop zunächst „für eine Waffe“, das angebotene „Durchschauen“-Lassen lehnt er erschrocken ab. Später, mit zunehmender Neugierde, wird alles Mögliche unter dem Mikroskop betrachtet: Insekten, Vogelfedern, Blüten, Moose, Flechten, Wassertropfen… vor allem Fliegen von der nahen Müllhalde auf gelbem Fliegenpapier. „Ich habe die gleichen Pflanzen und Tiere als Medizinstudent wieder gesehen. Mit den Präparaten unter dem Mikroskop tauchte auch meine Kindheit wieder auf“, heißt es in Roths Kindheits- und Jugenderinnerungen Das Alphabet der Zeit (2007).
Mikroskopische Präparate: das ist die Welt im Kleinsten herauspräpariert, Gewebsproben, Segmente, die unter bestimmten Bedingungen in der Vergrößerung Muster erkennen lassen, wobei die Bandbreite von (natur-)wissenschaftlicher Klassifikation bis zur zweckentbundenen Anschauung der „Kunstformen der Natur“ reicht. Analogien zu Roths Poetik sind offensichtlich: von der Ausschnitthaftigkeit über das Sichtbarmachen des in der Alltagswahrnehmung Verborgenen durch die Verfremdung, den Gestus des Durchschauens und Hinterfragens bis zum Auffinden von Ähnlichkeiten und Strukturen. Kein Wunder also, dass Mikroskope neben anderen optischen Instrumenten wie Kameras, Brillen oder Spiegeln in seinen Texten allenthalben auftauchen.
Wenn der Arzt Ascher in Der Stille Ozean (1980) leitmotivisch in sein Mikroskop blickt, erkennt er seiner existentiellen Entfremdung gemäß nur unverbundene Partikel, oder aber der Blick durchs Mikroskop generiert endlose imaginäre Bilderfluchten, die Ascher nicht auf das eigene Leben rückbezieht. Für den schizophrenen Lindner, der nach Aschers Selbstmord in Landläufiger Tod (1984) als „Biene“ mit ihrem „Facetten“-Sehen in das Mikroskop blickt, fließen in der Erinnerung die Bilder schließlich gleich einem Blutstrom über den Trägerrand des Mikroskops und „tropfen auf den Boden“ der (geschichtlichen) Wirklichkeit (Am Abgrund, 1986). In Orkus (2011) schließlich, dem Abschlussband von Roths 15teiligem Doppelzyklus, wird das Mikroskop endgültig zur Dichtungsmaschine: Der mikroskopische Blick auf ein Präparat mit „grauen Gehirnzellen“ bringt dort gleichsam die ganze Textwelt als Reise in die menschliche Hirnlandschaft hervor.
Daniela Bartens