SOZIALKRITIK ZWISCHEN KOTTAN UND AMBROS. Franz Buchriesers Hörspiel-Typoskript seiner ‚Grazer Fassung‘ zu Harald Müllers Der Zögling (1977)
„Der Zögling“. Hörspiel von Harald Müller und Franz Buchrieser. Regie: Franz Buchrieser. Musik: Wolfgang Ambros. Maschinschriftliches Typoskript, 42 Bl. + 5 Bl. Beilagen zur Einspielung, hs. Anmerkungen. Geschenk von Franz Buchrieser, erworben 12/1990. Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Einzelmanuskripte.
Franz Buchrieser, der als Titelheld der Kultserie Kottan ermittelt (Folgen 3-5) populär wurde, lässt sich nicht leicht in eine Schublade stecken. 1937 in Graz geboren, begann er nach der (abgebrochenen) Ausbildung am Reinhardt-Seminar seine Schauspielkarriere am Kasseler Stadttheater, wandte sich aber bald von der Bühne wieder ab und lebte als freier Schriftsteller, Journalist und leidenschaftlicher Landwirt in der Nähe von Graz. Nach der Uraufführung seines dialektalen Zweipersonenstücks Hanserl am Berliner Schillertheater (1971) galt der Szene-Verweigerer manchen Kritikern zu Unrecht als Wolfgang Bauer-Epigone, schrieb eigenwillig klischeebrechende Kinderbücher und betrieb eine Gefängnisgreißlerei in der Karlau. Durch Reinhard P. Grubers Die Industrie entläßt ihre Kinder und Herbert Brödls Fehlschuß Mitte der 1970er Jahre zum Filmschauspiel gebracht, verkörperte Buchrieser 1976 im zweiten Teil von Peter Turrinis und Wilhelm Pevnys legendärem Fernsehdrama Die Alpensaga den Korporal Huber an der Seite Helmut Qualtingers. Qualtinger war es auch, der im selben Jahr die Rolle eines nicht mehr integrierbaren ‚Häfnbruadas‘ in der Hörspielfassung seines Monodramas Das Produkt einlas, das Monate später für einen Grazer Theaterskandal sorgen sollte, ohne dort überhaupt auf die Bühne gekommen zu sein.
Das Problem der (Re-)Sozialisierung behandelt auch das Hörspiel Der Zögling (1977) des deutschen Dramatikers Harald Müller (*1934), das Buchrieser für ein österreichisches Publikum sehr frei aufbereitete. Im Mittelpunkt steht Charly, ein 17-jähriger Herumtreiber aus desolaten Familienverhältnissen, der sich aus dem Jugendstrafvollzug davongemacht hat und nun mit seinen Freunden Joe und Jesus mit aggressiver Bettelei die Zeit totschlägt. Dabei lernt er die Soziologiestudentin Uschi kennen, die versucht ihm zu einem geregelten Leben zu verhelfen und sich schließlich in den ruppigen Kleinkriminellen verliebt. Als auch Charly, der von einer Zukunft als Musiker träumt, langsam Vertrauen zu fassen beginnt, tritt mit dem erfolgreichen Architekten und christlich-sozialen Nachwuchspolitiker Toni ein weitaus standesgemäßerer Verehrer in Uschis Leben. Dieser verschafft seinem jungen Nebenbuhler Arbeit bei einem befreundeten Autowerkstattbesitzer und ermöglicht ihm einen Auftritt als Gastsänger bei seiner Wahlkampfveranstaltung, die für beide zum Erfolg wird. Obwohl Uschi sich letztlich gegen Toni entscheidet, der sie in eine vorbestimmte Rolle drängen möchte, zieht sich auch Charly zurück. Er will sich nicht instrumentalisieren lassen, weder von der pseudo-altruistischen Generosität Uschis, die mit der Affäre wohl nur aus ihrer gutbürgerlichen Welt auszubrechen versucht, noch vom berechnend-opportunistischen Protektionismus seines wahlkämpfenden Konkurrenten, dessen Amoralität lediglich besser getarnt ist.
Das originale ORF-Typoskript zeigt mit Streichungen, Überarbeitungen und Ergänzungen (zum Teil von eigener Hand der Interpreten) deutliche Spuren des Arbeitsprozesses während der dreitägigen Einspielung. Mit vier (nur hier veröffentlichten) Liedeinlagen bringt Wolfgang Ambros, der Charly seine Stimme leiht, einen substanziellen künstlerischen Teil ein. Ambros, damals bereits der Star der Austropop-Szene, spielt gekonnt den sich verweigernden, widerspenstigen Aussteiger, der seine Verletzlichkeit hinter einer aggressiven Sprachfassade aus Wiener Unterschichten-Jargon verbirgt. Er legt damit die Basis für Buchriesers subtiles Spiel mit den Registern des Wienerischen in seinen verschiedenen, variabel gehandhabten Ausprägungen vom proletarischen Basisdialekt über regiolektale Sprachlagen bis hin zum blasierten österreichischen Standard.
Am 18. und 19. Dezember 1977 im Studio Steiermark gesendet, hat sich die einstündige ORF-Produktion, bei der Buchrieser auch selbst Regie führte, als Stereo-Tonband erhalten. Eine Kopie des Hörspiels u.a. mit Ute Radkohl (Uschi) und Peter Uray (Toni) können Archivbenützer/innen am Franz-Nabl-Institut anhören.
Christian Neuhuber