ANASTASIUS GRÜN UND SLOWENIEN. Die Volkslieder aus Krain.
Mit dem steigenden Nationalbewusstsein unter den verschiedenen Völkern in der k.k. Monarchie stieg auch das Interesse an volkstümlichen Bräuchen, Sagen und Volksliedern. Neben den Bänden mit germanischem und alpenländischem Liedgut wurden auch viele Übersetzungen von anderssprachigen Volksliedern ins Deutsche getätigt. Eine der bekanntesten Übersetzungen aus dem slawischen Kulturkreis, genauer genommen aus dem Gebiet des heutigen Slowenien, ist das Werk Volkslieder aus Krain von Anastasius Grün.1
Anastasius Grün, der in Ljubljana als Graf Anton Alexander von Auersperg auf die Welt kam, wurde schon im Alter von sieben Jahren nach Wien geschickt, um an der k.k. Anstalt Theresianum unterrichtet zu werden.2 Auch wenn er dort nicht lange blieb und in den Folgejahren verschiedene Erziehungsanstalten besuchte, lebte er ab seinem siebten Lebensjahr nur noch in deutschsprachiger Umgebung.3 Slowenisch verlernte er somit rasch und hatte nur für kurze Zeit in diesem Fach Unterricht, als er in einer Erziehungsanstalt des Pädagogen Friedrich August von Klinkowström untergebracht war. Im späteren Verlauf seines Lebens kehrte Anastasius Grün immer wieder zu seinen Ländereien in Thurn am Hart zurück, wo er seine slowenischen Sprachkenntnisse ein wenig auffrischen konnte.4 Als Anastasius Grün ab 1835 mit der Übersetzung von Volksliedern aus Krain begann, beschäftigte er sich wieder regelmäßig mit der Sprache seiner Kindheit. Als Vorlage für seine Übersetzungsarbeit dienten ihm dabei verschiedene Volksliedsammlungen in slowenischer Sprache, die bereits Anfang der 1830er Jahre veröffentlicht wurden.
Eine besonders wichtige Rolle könnten dabei folgende drei Werke gespielt haben, die im Teilnachlass Anastasius Grüns neben den handschriftlichen Manuskripten zu Grüns Übersetzungen der Volkslieder aus Krain am Franz-Nabl-Institut vorzufinden sind:
- Anton Janežič: Cvetje slovanskega naroda. Slovenske narodne pesme, prislovice in zastavice.5 [1. Ausgabe. Köln: Kleinmayr 1852]
- Matija Ahacel: Koroške in Štajerske pesmi: Enokoljko popravl. in na novo zložene.6 [3. Ausgabe. Klagenfurt: Janez Leon 1855]
- Stanko Vraz: Naordne Pesni. Ilirski Slovenci.7 [1. Ausgabe. Zagreb: Ljudevit Gaj 1839]
Anastasius Grün war aber auch auf die direkte Hilfe seiner Krainer Freunde und Kollegen angewiesen, allen voran France Prešeren, den er schon aus seiner Zeit in Wien kannte, aber auch Stanko Vraz, Andrej Smole und Janez Bleiweis.8 Mit dem Polen Emil Korytko, der auch Liedgut in slowenischer Sprache veröffentlichte,9 und dem Slawisten Bartholomäus Kopitar, der die Entwicklung der slowenischen Grammatik vorantrieb,10 war Anastasius Grün ebenfalls in Kontakt.11 Zur Vorbereitung für das Übersetzen der Volkslieder aus Krain las Anastasius Grün außerdem Des Knaben Wunderhorn sowie das Werk Narodne pesni ilirske, koje se pevaju po Stajerskoj, Kranskoj, Koruskoj, i zapadnoj strani Ugarske12 von Stanko Vraz.13
1837 äußerte Anastasius Grün erstmals gegenüber seinem Verleger Weidmann sein Vorhaben, eine deutsche Fassung von Volksliedern aus Krain zu verfassen. Im Jahre 1845 lag dann alles für den Druck bereit, bis zur Veröffentlichung dauerte es jedoch noch ein paar Jahre. Erst 1849 schrieb Grün das noch fehlende Vorwort und 1850 lagen dann endlich die ersten Drucke im Buchhandel auf. Grün war mit dem Erstdruck nicht sehr zufrieden und plante daraufhin eine Neuauflage, zu der es jedoch nie kam.14
Anastasius Grün interessierte sich sein Leben lang für Volkslieder. Seine ersten handschriftlichen Übersetzungen gehen auf das Jahr 1826 zurück und sogar noch aus seinem letzten Lebensjahr 1876 ist bekannt, dass er an zwei Volksliedern arbeitete. Das akribische Übersetzen Wort für Wort stellte für Grün anscheinend einen besonderen Reiz dar.15 Dies zeigt sich auch in der Anzahl von ungefähr 150 Blatt handschriftlicher Manuskriptseiten, die im Teilnachlass Anastasius Grüns am Franz-Nabl-Institut liegen. Einige davon wurden dann auch im Werk Volkslieder aus Krain veröffentlicht.
Bei der Auswahl der 48 Lieder legte Grün Wert darauf, nur das wirklich Volkstümliche zu wählen. Auf den ersten Blick fallen einem sogleich Namen wie Janko, Vida, Tertoglav, Roschlin, König Marko (serbischer Held), König Matjasch (Ungarnkönig) usw. ins Auge. Laut Scharmitzer16 handelt es sich dabei um Gestalten aus Sagen der Nachbarvölker von Krain, also um Helden des slawischen Kulturkreises. Dieser war bis zur Zeit der Veröffentlichung der Volkslieder aus Krain für die deutsche Leserschaft noch relativ unbekannt. Grün war es auch wichtig, das Charakteristische von Krain mit seinen Menschen und Ländern zu umschreiben. Volk und Land charakterisierte Grün laut Scharmitzer, der die Information aus der Korrespondenz zwischen Anastasius Grün und dem Weidmann Verlag hat, folgendermaßen:
Herb ist es, trägt seine Vorzüge nicht zur Schau; wie das Land seinen unfruchtbarsten Teil an der Heerstraße gelegen hat, ist auch […] das Volk gegen Fremde verschlossen und unzugänglich, für sich und vor sich hin summend von Naturerleben, Liebe und Liebchen, von gewahrter und gebrochener Treue, ernste Familienlieder, Balladen aus der Türkenzeit, älteres und jüngeres Gut.17
Die Anordnung der Lieder folgt den Ratschlägen, die schon Goethe der deutschen Schriftstellerin Talvj für ihre zwei Bände der Volkslieder der Serben gab: Lieder mit dem Thema ‚Naturerleben und Liebe‘ -> ‚Familienlieder‘ -> ‚Balladen (Türkenzeit)‘ -> ‚alte Sagen‘ -> ‚jüngere Sagen‘ -> ‚historische Volkslieder‘. Die vor allem in den Sagen und historischen Volksliedern vorkommenden Helden sind dabei aus dem gesamten slawischen Kulturgut herausgegriffen und bei einigen Nachbarvölkern des heutigen Slowenien durchaus bekannt. Themen der Volkslieder sind z.B. Hass gegen die Türken, Sitten des einfachen Volkes und Spott gegenüber den Landesnachbarn, allen voran Kärnten und Steiermark. Die im germanischen Liedgut typische Heldenverehrung vermisste Grün bei den Volksliedern aus Krain, da diese näher am einfachen Volk orientiert sind. Bei der Übersetzung ging Grün sehr genau vor und versuchte eine „originalgetreue Wiedergabe der formalen Elemente“18. Fehler schlichen sich trotzdem ein, die vor allem durch mangelnde Sprachkenntnisse begründbar sind.19
Die Melodien und Noten zu den Volksliedern fehlen, wie auch bei den meisten anderen Sammelbänden von Volksliedern, zur Gänze, obwohl Anastasius Grün in einem Brief vom 8. Dezember 1845 an France Prešeren folgende Bitte äußerte:
Hier in meiner Gegend wird wenig gesungen und was gesungen wird, ist meistens der Art, daß es in meine Sammlung nicht aufgenommen werden kann. Ich bitte Sie daher recht dringend, mir über die Sangweise unserer Lieder, deren Tonart, allfällige Instrumentalbegleitung u. s. w. mitzutheilen, was Sie mir entweder aus eigenen Erfahrungen geben oder aus Mittheilungen irgend eines Ihnen gewiß bekannten Musikkenners ergänzen können.20
Interessant ist hierbei vor allem die Formulierung „Sangweise unserer Lieder“. Sie zeugt von Anastasius Grüns Verbundenheit mit seinem Geburtsort und dass er sich als Teil von deren Kultur wahrnahm.
Die Veröffentlichung der Übersetzung wurde vom Krainer Volk willkommen geheißen, da so slowenisches Kulturgut auch über die Landesgrenzen hinweg bekanntgemacht wurde.21 Dies war auch eine Intention Grüns, wie er dem Rezensenten Karl Deschmann schrieb: „Durch die ‚Volkslieder aus Krain‘ wollte ich zunächst nur eine Sohnespflicht gegen mein Geburtsland erfüllen und deßen weniggekannte Liederschätze auch dem ihnen fernstehenden Deutschen zugänglich machen.“22 Von diesen „fernstehenden Deutschen“ wurde das Werk begeistert aufgenommen, da es das Interesse für eine Volksdichtung weckte, die bis zum Zeitpunkt der Veröffentlichung noch relativ unbekannt war.23
Es soll aber nicht unerwähnt bleiben, dass vor allem die deutschsprachige Bevölkerung in Krain das Werk und den Dichter feierte und nicht das Krainer Volk an sich. Die Deutschen in Krain feierten den Dichter immer wieder, so z.B. auch zu seinem 70. Geburtstag, wo sie eine Feier in Ljubljana veranstalteten. Die Lobpreisung Anastasius Grüns hatte sicherlich nicht nur literarische Gründe, sondern war auch von politischer Seite her so gewollt.24
Das Vorwort Grüns in Volkslieder aus Krain, das er im Herbst 1849 auf Schloss Thurn verfasste,25 lässt jedoch auch einen anderen Schluss zu, der vor allem auch von der gegenwärtigen slowenischen Germanistik vertreten wird, dass nämlich Anastasius Grün die Krainer Literatur und Kultur nicht so wertschätzte, wie bis dahin angenommen:26
[…] durfte es der Herausgeber dieser Blätter wagen, die bereits allmählich verklingende poetische Stimme eines merkwürdigen Volksstammes zu vermitteln, der freilich in der großen Staaten- und Kulturgeschichte ein so bescheidenes Plätzchen einnimmt, wie in der Touristenliteratur sein kleines Wunderland hart an der äußersten Grenze des alten herrlichen deutschen, oder wenn man lieber will, des neugeträumten großen Slavenreiches.27
Diese Zeilen zeigen einen Dichter Anastasius Grün, der das Krainer Volk einen „merkwürdigen Volksstamm“ nennt und dem Land im Gegensatz zu den großen deutsch und slawisch sprechenden Nachbarn nur „ein bescheidenes Plätzchen“ zuteilt. Diese abwertende Haltung gegenüber Krain vertritt Anastasius Grün auch immer wieder in seinen politischen Aufsätzen und Reden, die im sechsten Band der Gesamtausgabe Grüns nachzulesen sind.28
Nicht nur das Vorwort zu den Volksliedern, sondern auch das gesamte Werk wird heute von der Literaturwissenschaft kritischer gesehen,29 da sich doch auch einige sprachliche und kulturelle Fehler eingeschlichen haben. Grün wird außerdem dafür kritisiert, seine Übersetzung stark an den Typus des deutschen Volksliedes angepasst zu haben und somit die deutsche Volksdichtung als wertvoller angesehen zu haben.30 Formale Charakteristika, die für die slawische Volksdichtung von charakteristischer Bedeutung sind, wurden nicht übernommen und die „Poetizität und Authentizität des slowenischen Volksliedes“31 in Grüns Übersetzung der Volkslieder aus Krain ging verloren.
Trotzdem soll zuletzt hervorgehoben sein, dass Anastasius Grün mit der Veröffentlichung der Volkslieder aus Krain einen Teil des Kulturgutes der Region Krain einem größeren Publikum zugänglich machte und es über die Landesgrenzen hinweg transportierte. Somit sind uns die Sagen und Mythen der damaligen Zeit auch heute noch erhalten und können für aufschlussreiche Erkenntnisse sorgen.
Paul Taglieber
1 Vgl. Dietmar Scharmitzer: Anastasius Grün (1806-1876). Leben und Werk. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2010, S. 273f.
2 Vgl. ebda., S. 54-56.
3 Vgl. ebda., S. 274.
4 Vgl. Vasilij Melik: Anton Alexander Graf Auersperg und die Slowenen. In: Anastasius Grün und die politische Dichtung im Vormärz. Internationales Symposion Laibach/Ljubljana 3.-6. November 1994. Hrsg. v. Anton Janko und Anton Schwob. München: Südostdeutsches Kulturwerk 1995, S. 93.
5 Anton Janežič: Blumen der slawischen Nation. Slowenische Nationallieder, Adverbien und Flaggen.
6 Matija Ahacel: Kärntner und Steirische Lieder: Einzelkorrektur und neu gestaltet.
7 Stanko Vraz: Volkslieder. Illyrisches Slowenien.
8 Vgl. Anton Janko: Anastasius Grün und die slowenische Literaturgeschichte. In: A. J., A. Schwob (Hrsg.), Anastasius Grün und die politische Dichtung im Vormärz, S. 111.
9 Vgl. Wikipedia: Emil Korytko. URL: https://en.wikipedia.org/wiki/Emil_Korytko. Aufgerufen am: 25.8.2024.
10 Vgl. Wikipedia: Jernej Kopitar. URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Jernej_Kopitar. Aufgerufen am: 25.8.2024.
11 Vgl. Scharmitzer, Anastasius Grün, S. 275.
12 Illyrische Volkslieder, gesungen in der Steiermark, in Krain, Kärnten und im westlichen Teil Ungarns.
13 Vgl. Matjaz Birk: Kulturvermittler im slowenischen ethnischen Territorium des Habsburgerreichs. Ein literatursoziologisches Fallbeispiel. In: LiTheS. Zeitschrift für Literatur- und Theatersoziologie II (2009), H. 2, S. 22.
14 Vgl. Scharmitzer, Anastasius Grün, S. 277f.
15 Vgl. ebda., S. 281.
16 Vgl. ebda., S. 279.
17 Ebda., S. 279.
18 Ebda., S. 281.
19 Vgl. ebda., S. 279-281.
20 Janko Lokar: Anastasius Grüns Briefe an Prešeren und Bleiweis. In: Carniola. Zeitschrift für Heimatkunde (1908), H. 1, S. 189.
21 Vgl. Janko, Anastasius Grün und die slowenische Literaturgeschichte, S. 113f.
22 Lokar, Anastasius Grüns Briefe an Prešeren und Bleiweis, S. 195.
23 Vgl. Birk, Kulturvermittler, S. 23.
24 Vgl. Janko, Anastasius Grün und die slowenische Literaturgeschichte, S. 114.
25 Vgl. Scharmitzer, Anastasius Grün, S. 278.
26 Vgl. ebda., S. 282.
27 Anastasius Grün: Volkslieder aus Krain. Leipzig: Weidmann’sche Buchhandlung 1850, S. IV-V.
28 Vgl. Eduard Castle: Anastasius Grüns Werke in sechs Teilen. Bd. 6: Aufsätze und Reden. Berlin/Leipzig/Wien/Stuttgart: Bong 1909. (= Goldene Klassiker-Bibliothek.)
29 Vgl. Birk, Kulturvermittler, S. 24.
30 Vgl. Scharmitzer, Anastasius Grün, S. 281f.
31 Birk, Kulturvermittler, S. 24.