„ICH WURDE GEBOREN, ICH LEBE, ICH WERDE STERBEN.“ Günter Eichbergers Materialien zu einem Lebenslauf
Typoskriptfassung von Günter Eichbergers „Materialien zu einem Lebenslauf“, seiner ersten Publikation in den „manuskripten“ (1980, H. 67, S. 64f.) mit hs. Dat. „3./4. & 6. November 1979“, 5 Bl., aus dem Teilvorlass des Autors am Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung, Signatur: FNI-Eichberger-1
„Wenn ich ein Komponist wäre, würde ich es mein op. 1 nennen“, schreibt Günter Eichberger über seine Materialien zu einem Lebenslauf in einer mail mit der Publikationsgenehmigung des Typoskripts von 1979. Der Text des damals erst 20-Jährigen erschien wortgleich in Heft 67 (1980) der Grazer Literaturzeitschrift „manuskripte“. Und wer die strengen Qualitätskriterien von deren Herausgeber, Alfred Kolleritsch, in Erinnerung hat, kann ermessen, dass diese Veröffentlichung einem Ritterschlag gleichkam. Um Aufnahme in den Grazer Dichterolymp beworben hatte sich der junge Eichberger augenzwinkernd – und ganz wie es sich für eine Bewerbung ziemt – mit einem „Lebenslauf“, freilich einem, der den Musenkuss und die damit verbundene Genieästhetik nicht nur ironisch thematisiert, sondern auch gleich belegt, dass die Musen, „neun herzige, liebesbedürftige Mäderln aus Griechenland“, ihren Dichter-Bohemien ausgiebig liebkost haben. Der Text wurde am 16.4.1980 bei einer gemeinsamen Lesung mit Wolfgang Pollanz und Herwig Kaiser im Forum Stadtpark zusammen mit anderen, damals (und teilweise heute) noch unveröffentlichten Texten Eichbergers präsentiert, wofür dem Autor, wie seinerzeit üblich, in drei Grazer Tageszeitungen (von denen zwei heute nicht mehr existieren) ausführlich Anerkennung gezollt wurde, so etwa in der „Neuen Zeit“:
Den gewissermaßen „kulinarischen“ Höhepunkt bildeten schließlich die Hörproben aus Eichbergers Produktion. … Einmal losgelassen, lief der kauzige Eichberger zu souveräner Deklamation seiner Prosa auf, deren wiederkehrendes Thema das Heben eines schier unbegrenzt scheinenden Schatzes an Wortwitz und bizarren Einfällen ist – Alkohol, Weib und Phantasie wäre der kleinste gemeinsame Nenner, auf den man diese Texte bringen könnte, die auch nirgends ihre literarischen Ahnherren – H. C. Artmann und Wolfi Bauer –verleugnen… (Harald Strobl: Ironie, Besinnung und Witz. Drei junge Autoren lasen im Grazer Forum Stadtpark. In: NZ (Graz) v. 18.4.1980.)
Alle drei Lesungsberichte betonen, dem Textmotto folgend, die rauschhaft-delirierende Sprachlust des Autors und den Spaßfaktor beim Zuhören. Dass Eichbergers maßlose Übertreibungen und satirisch-sprachspielerische Überzeichnungen, das kalauernde Geblödel und die Vexierspiele um die Identität darüber hinaus mit und aus dem Spaß Ernst machen, deutet sich bereits in den frühen Materialien zu einem Lebenslauf an. Werden dort doch die vorgeblichen Biographeme nicht dem Leben selbst entnommen, sondern scheinen als Konfabulationen „spaziergängen durchs cerebrum“ (Gerhard Roth: die autobiografie des albert einstein, 1972) ihres Verfassers zu entstammen, jenem Umschlagplatz zwischen Außen und Innen, Erlebtem und Erfundenem, Möglichem und Undenkbarem. Das wilde Gemisch aus sprachinduzierten Phantasmagorien, Wortspielereien und verdrehten Redewendungen, biografischen Eindrücken, erfundenen, angelesenen und realen Lebensdaten ist gemäß der Gattungsvorgabe auf einer Zeitachse angeordnet und suggeriert eine dichterische Selbstwerdung, die die vorgeblich gelungene Sozialisation mit Lehramtsstudium, Brotberuf als Gymnasiallehrer, Kind und Kegel, vom Ende her Lügen straft, stellt sich doch alles als Produkt der Fantasie des schreibenden Ich heraus:
Wenn ich durch die Straßen gehe, weiß ich, daß die Häuser aus Pappe sind. Einmal werde ich sie umstoßen & mit den Füßen vor mir herrollen.
Es wird ein schöner, ein gelungener Tag sein. (Bl. 5)
Nicht nur das Leben selbst bringt also die Biografie hervor, sondern der Lebenslauf als sprachliche und zeitliche Strukturierung des „Materials“ nimmt umgekehrt Einfluss auf das reale Leben. Gelebt wird, was denkbar und formulierbar ist, und insofern es formuliert wird, verändert es das Leben, denn auch das Schreiben ist Teil des Lebens. Insofern der vor-schreibende Charakter von Sprachmustern und Gattungsnormen in Eichbergers Materialien zu einem Lebenslauf mitthematisiert und unterlaufen wird, steht der Text tatsächlich in jener durch die Zeitschrift „manuskripte“ begründeten Tradition einer sog. „Grazer Gruppe“, in der von Peter Handkes berühmter Lebensbeschreibung (1965) über Reinhard P. Grubers Aus dem Leben Hödlmosers mit dessen „eigenhändig geschriebenem“ „Steirischem Lebenslauf“ (Residenz 1973) bis zu Gunter Falks brillant-lapidarem Lebenslauf aus dem Band Die Würfel in manchen Sätzen (Ramm 1977) die Dichotomie von Lebensanspruch und Sprachregelung mit unterschiedlichen Verfahrensweisen thematisiert wird. Dass die Pappkameraden wie Bauklötze „umgestoßen“ und neu aufgestellt werden können, ist der rebellische Anspruch einer solchen Literatur. Wobei Günter Eichberger von allem Anfang an die Lust an der Sprache, das Sprachspiel über die Sprachkritik stellt.
Mit 20 schreibt er seine Materialien zu einem Lebenslauf, als er 40 ist, veröffentlicht er seine „unautorisierte Autobiographie“ aus Splittern und Fragmenten, Gesicht aus Sand (Ritter 1999), und nimmt den Lebenslauf als Biographem in die Autofiktion mit auf:
Ich schrieb dann meinen berühmten Text Materialien zu einem Lebenslauf, wahrscheinlich schrieb ich ihn irgendwo ab, aus entlegenen Quellen schöpft sich das reinste Wasser. Der Text überzeugte alle, sogar mich, von meiner Dichterschaft. Und von da an tat ich alles für die Poesie, in der Hoffnung, daß sie dann alles für mich tun werde. (S. 32)
Als autofiktionaler Text im Text erhält der Lebenslauf innerhalb der „unautorisierten Autobiographie“ eine Spiegelfunktion, wobei alle pseudo-denotativen Teile des Ursprungstexts, etwa das Anzitieren des „klassischen Lebenslaufs“ durch Namensnennung, Geburtsdaten oder schulischen Werdegang – wohl um den flirrend-phantasmagorischen Eindruck zu verstärken – eliminiert werden. Insbesondere die Ersetzung des Dissertationsthemas „H. C. Artmann“ durch „Erich Bünteggerer“, jener aus Eichbergers erstem Roman, Der Wolkenpfleger (Residenz 1988), vertrauten Autor-Maskierung, ist dabei aufschlussreich. Handelt es sich doch um ein Namensanagramm des Verfassernamens „Günter Eichberger“, der mit dem Satz „Ich dissertierte über Erich Bünteggerer“ (S. 34) eine selbstbezügliche Schleife in Gang setzt, die zugleich durch den Vornamen „Erich“, „er“ und „ich“, kommentiert wird: Denn im autobiografischen Schreiben wird bekanntermaßen das Ich zu seiner eigenen Figur, „Er“, während „Ich“ notwendig ein blinder Fleck bleibt. „Ich bin durchschaut: Ich bin mein blinder Fleck.“ (S. 72) Die „Autobiographie“ als „Dissertation“ des Autors über die eigenen Masken-Ichs und Ich-Masken, der strikt selbstreflexive Charakter der literarischen Versuchsanordnung, wird in Gesicht aus Sand schon am Titelblatt angezeigt, wenn Erich Bünteggerer als Übersetzer „aus dem österreichischen Deutsch“ genannt wird, der Autor also als seine eigene Übersetzer-Figur präsentiert wird, einer, der eigene und andere Texte – unter anderen jene von H. C. Artmann – im Schreibprozess übersetzt.
Schreiben ist Günter Eichbergers Leben, aber das Leben ist immer dort, wo das Schreiben aufhört. Insofern wundert es nicht, dass lauter untote Schein-Figuren die Wüstenlandschaften des Günter Eichberger besiedeln, Luftspiegelungen und Wolkenpfleger, Trockenpflanzen im Aquarium, flüchtige Gestalten, aus Sand gebaut.
Ich bin eine Leerstelle, die ich nach Gutdünken besetze. Und so wird aus nichts etwas.
Ich schlafe, ich schlafe so fest, so traumhaft fest wie nur die Vögel auf den Wolken. (Gesicht aus Sand, S. 124)
„Der Rest ist Schweigen“ heißt es bei Hamlet, „Der Rest ist unleserlich“ (S. 124) lauten Eichberger/Bünteggerers letzte Worte.
Am 15. September 2019 wird Günter Eichberger 60 Jahre alt. Am 27.9. wird er aus seinem neuen Buch Stufen zur Vollkommenheit (Ritter 2019) lesen, sicher nicht seine letzten Worte.
Daniela Bartens