HELMUT SCHRANZ: FALTBRIEF AN DIE „perspektive“
Hs. Faltbrief von Helmut Schranz an die „perspektive“-Redaktion (Petra Ganglbauer) v. 11.4.1984. 1 Bl., Vorder- und Rückseite. Archiv des Franz-Nabl-Instituts für Literaturforschung, Verlagsarchiv Gangan, „perspektive“-Redaktionsarchiv (1982-1984), Mappe Briefschreiber.
Anno 1977 war in Bad Ischl von SchülerInnen des dortigen Bundesrealgymnasiums eine Zeitschrift gegründet worden: „perspektive“. Nach 6 Nummern übersiedelte einer der Hauptaktivisten – Alfred Ledersteger – studienhalber nach Graz und brachte dort 1980 die 7. Nummer heraus, trotz der vorherrschenden Ausrichtung auf „junge“ AutorInnen u.a. mit unveröffentlichten Texten von H.C. Artmann und Wolfgang Bauer. Mit der Nummer 8 formierte sich eine neue Gruppe um Ledersteger und um Horst Gerald Ganglbauer, in der Folge auch unterstützt von seiner Frau Petra, der die Zeitschrift in Richtung Professionalisierung veränderte (neues Layout, erhöhte Auflage, verbesserter Vertrieb…). 1984 kam es innerhalb des Betreiberkollektivs nach Ganglbauers Bestreben, die Zeitschrift in sein Verlagsprojekt „gangan“ zu integrieren, zum Bruch und das Ehepaar zog sich nach der Nummer 10 zurück.
Noch aus der Zeit vor dem Ausscheiden des Ehepaars Ganglbauer datiert diese allererste Kontaktnahme des 21jährigen Germanistik- und Philosophiestudenten Helmut Schranz mit der „perspektive“.
Es sollte noch 4 Jahre dauern, bis in der Nummer 15 von 1988 der erste Text von Schranz erschien, der sogleich zum Mitherausgeber avancierte und etwas mehr als 2 Jahre später – in einer Gruppe mit Ralf B. Korte, Margret Kreidl und Dieter Sperl – maßgeblich die Blattlinie als „Basislager Avantgarde“ mitdefinierte. In seiner Diplomarbeit von 2005 über die Geschichte der Zeitschrift von 1977 bis 1999 schreibt Schranz: „Die Stornierung und Irritation des narrativen Schemas als kleinster gemeinsamer Nenner sowie eine Tendenz zu Gemeinschaftstext und -Performance kann in „gruppe perspektive“ als Beginn gemeinsamer Theoriebildung angesehen werden.“ „Wiener Gruppe“, Priessnitz, Oulipo, russischer Formalismus, Futurismus, die Situationisten und der poststrukturalistische Dekonstruktivismus sind nur einige der rezipierten Autoren und Denkrichtungen, die die „experimentelle“, „avantgardistische“ (oder „avancierte“) Stoßrichtung von „perspektive“ ab etwa 1991 bestimmen.
Im September dieses Jahres, ein Jahr nach dem furchtbaren, frühen Tod von Helmut Schranz, wird die Doppelnummer 86/87 der „perspektive“ erscheinen und damit, in seinem Sinn, ein Zeitschriftenprojekt fortgeführt werden, das in der Steiermark zu den langlebigsten und bedeutsamsten („manuskripte“ seit 1960, „sterz“ seit 1977, „lichtungen“ seit 1979) zählt. Dass Helmut als Literat mit seinen birnall-Bänden (2009 und 2015 bei Ritter erschienen) einen Kopfkosmos literarisch konturierte, in dem die Hauptfigur Birnbaumer unter verschiedenen Namen – vermutlich als Aufspaltung diverser Autor-Identitäten – durch eine Textwelt stolpert, die trotz aller virtuos inszenierten metaliterarischen Relativierungen nicht nur als Glasperlenspiel für sich selbst steht, ist außer Frage: Dieser anarchisch-spontaneistische Autor war eminent politisch, gleichzeitig stets auf der Suche nach einer den herkömmlichen Sinn zerstörenden Versinnlichung der Begriffswelten – durch semantische Mehrdeutigkeit, Verfremdung, Negation, Ersetzungsoperationen, Neologismen.
„We like perspektive“ hatte er 1984 auf die Rückseite seines Faltbriefs geschrieben, und das Strichmännchen und -weibchen des Helmut Schranz meinen da ganz andere „Likes“ als die geläufigen.
Gerhard Fuchs