PROSA ALS RETTUNG „AM ENDE DER LITERARISCHEN WELT“: ILSE AICHINGER IN DEN „MANUSKRIPTEN“
Durchschlag eines Typoskripts (DIN-A4) des Kurzprosa-Texts „Ein Freiheitsheld“ von Ilse Aichinger (1921–2016), mit dem handschriftlichen Vermerk „Manuskripte“ aus der ersten Lieferung des manuskripte-Redaktionsarchivs, das sukzessive dem Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung übergeben wird (FNI-Manuskripte-271769 III/AR158,15).
Das Land Steiermark hat 2020 das manuskripte-Redaktionsarchiv, das Materialien aus dem Zeitraum von 1960 bis 2015 enthält, für die Steiermärkische Landesbibliothek angekauft und stellt dieses als unbefristete Leihgabe dem Franz-Nabl-Institut für Literaturforschung zur Verfügung. Die erste Teillieferung des Redaktionsarchivs, die im September dieses Jahres erfolgt ist, umfasst Dokumente (eingesendete Manuskripte und Typoskripte, Korrekturfahnen etc.) zu den Heften der Jahre 1960 bis 1970, die gesamte Korrespondenz sowie Aufzeichnungen über Heftbestellungen des betreffenden Zeitraums.
Bereits in den Anfangsjahren waren die manuskripte durch eine große Zahl an prominenten Beiträger:innen gekennzeichnet. Neben den ‚Mitgliedern‘ der Wiener Gruppe sowie weiteren klingenden Namen aus dem In- und benachbarten Ausland finden sich auch zahlreiche aufstrebende österreichische Autor:innen unter den Beitragenden, nicht zuletzt jene des Kollektivs aus „jungen Wilden“, das etwa zur selben Zeit das drückende Joch des Provinzialismus abzuwerfen suchte und als Grazer Gruppe mit enormem Selbstbewusstsein in das literarische Feld (nicht nur des kleinen Österreich) einzog. Alfred Kolleritsch, Spiritus Rector des bis heute anhaltenden publizistischen Erfolgsmodells, hatte früh erkannt, dass die steirische Landeshauptstadt in den 1950er Jahren den Anschluss an die internationale Kunst- und Literaturszene verpasst hatte, und stellte trotz schärfsten Gegenwinds vonseiten der erzreaktionären Kulturpolitik die entsprechende Plattform zur Verfügung, in der Texte von unbekannten jungen Talenten ebenso Platz finden konnten wie solche von arrivierte(re)n Stimmen des Literaturbetriebs, solange sie nur mit der prinzipiellen, einem avancierten Literaturbegriff verpflichteten Ausrichtung in Einklang zu bringen waren.
Ilse Aichinger, die am 1. November 2021 ihren 100. Geburtstag gefeiert hätte, muss in den frühen 1960er Jahren schon der Gruppe der Schriftsteller:innen von Rang zugeschlagen werden. 1921 geboren, erlebt sie die Schrecken des Zweiten Weltkriegs hautnah und verarbeitet ihre Erfahrungen vielfach literarisch, so z. B. in ihrem Roman Die größere Hoffnung, der 1948 erscheint. 1951 nimmt sie auf Einladung Hans Werner Richters erstmals an einer Tagung der Gruppe 47 teil. Dort lernt sie Günter Eich kennen, die beiden werden ein Paar und heiraten 1953. Aichinger ist zehn Jahre älter als Alfred Kolleritsch und zum Zeitpunkt der ersten Kontaktaufnahme bereits eine etablierte und mehrfach ausgezeichnete Autorin (u. a.: 1952 ‒ Preis der Gruppe 47, 1952 ‒ Förderungspreis des Bundesministeriums für Unterricht und Kunst, 1961 ‒ Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste). Im manuskripte-Redaktionsarchiv haben sich lediglich Kopien von Alfred Kolleritschs Briefen an Günter Eich und Ilse Aichinger, jedoch keine Antwortschreiben des Schriftstellerehepaars erhalten. Dennoch geben die Briefe des umtriebigen, stets um hochwertige Zusendungen bemühten Herausgebers einen Einblick, wie es zur Mitarbeit der prominenten Autorin in der damals noch jungen Grazer Literaturzeitschrift gekommen ist.
Als Vermittler wollte Kolleritsch den nicht minder berühmten Ehemann einspannen. Günter Eich hatte damals bereits Berührungspunkte zu dem ambitionierten Literaturprojekt in der österreichischen Provinz: Am 3. Juli 1962 hatte er eine Lesung im Forum Stadtpark gehalten und im Oktober desselben Jahres ein Gedicht in Heft 6 der manuskripte veröffentlicht. Im Lichte dieser vielversprechenden Anfänge wendet sich Alfred Kolleritsch einige Monate später, am 7. Februar 1963, mit einem konkreten Anliegen an Eich, der mit Aichinger in Lenggries in Oberbayern lebt: „Frau Ilse Aichinger“ möge ihm doch für das nächste Heft „einen Beitrag überlassen“; ein Bestreben, das Eich angesichts der „Schwierigkeiten […], mit denen unser ‚Haus‘, unser Programm und unsere Zeitschrift zu ringen haben“ und die offenbar auch bei dessen Graz-Besuch im Sommer zuvor thematisiert wurden, einleuchten müsse. Gegen Ende des Briefes spricht Kolleritsch es unverhohlen aus: „Jede Unterstützung von außen gibt uns eine Bestätigung, mit der wir der Öffentlichkeit dokumentieren können, daß es auch in Graz einen Sinn hat, der modernen Dichtung ein Forum zu geben.“ (FNI-Manuskripte-271769 III/AR43,E)
Aichinger beteiligt sich daraufhin mit einem ersten von insgesamt vier Texten in den manuskripten und schickt das Gedicht Zuspruch, dessen Erstpublikation zwar im selben Jahr unter dem Titel Auf Sicht in der Neuen Rundschau, (2. H., Jg. 74) erfolgt, aber dennoch in Heft 7 (1963) der manuskripte erscheint. Daraufhin schreibt Kolleritsch in einem direkt an die Autorin adressierten Brief vom 29. April desselben Jahres:
Sehr verehrte gnädige Frau!
Seien Sie bitte nicht ungehalten, daß ich mich für Ihre Freundlichkeit, in den „manuskripten“ mitzuarbeiten, erst jetzt bedanke.
Ich hoffe, daß Sie mit den „manuskripten 7“, von denen wir Ihnen zwei Belegexemplare geschickt haben, zufrieden waren.
Ende Mai will ich das Heft 8 in Druck geben. Die bösen Geister, die Sie mit Ihrer Mitarbeit riefen, wollen Sie jetzt nicht mehr loslassen. So werden Sie es mir vielleicht nicht übelnehmen, gnädige Frau, wenn ich Sie bitte, uns durch Ihre wertvolle Mitarbeit auch weiter zu unterstützen; und vielleicht finden Sie für die „manuskripte“, die hier am Ende der literarischen Welt weitergedeihen wollen, einige Zeilen Prosa (mein äußerster Wunsch!) oder ein Gedicht.
Wir freuen uns schon auf den Tag, wo unsere Kassen so gefüllt sind, daß wir Sie zu einer Lesung nach Graz einladen können. Bestellen Sie bitte Ihrem Herrn Gemahl die besten Grüße aus Graz.
Mit Handkuß und besten Empfehlungen, Ihr
(Alfred Kolleritsch)
[FNI-Manuskripte-271769 III/AR43,A]
Die „gnädige Frau“ wird diesem von Kolleritsch wiederholt verwendeten Epitheton gerecht. Sie erfüllt dem Herausgeber seinen „äußersten Wunsch“ und reicht den kurzen Prosatext Ein Freiheitsheld ein, der in Heft 8 (1963) abgedruckt wird. Der Text erscheint später u. a. noch im Almanach des S. Fischer Verlags (1964) sowie im Erzählband Eliza Eliza (1965). Die Erzählungen Aichingers sind nicht nur geprägt von Fragen, sondern auch von der Reduktion des Erzählens, des Erzählers. Unspezifische grammatische Bezüge erschweren bewusst den Zugang zum Text. Häufige Themen sind Angst, Schmerz, Wahn, Verfolgung, Gefangenschaft und Tod. Als Ausgangspunkt dient oft eine gewisse Verunsicherung, wie sie für Zeiten des Krieges kennzeichnend ist.
Auch die vorliegende Parabel, die, wie die Autorin einst der Verfasserin einer ihr gewidmeten Monografie mitgeteilt hat, auf den Tiroler Freiheitskämpfer Andreas Hofer verweist, scheint die Lesenden an einen Kriegsschauplatz zu führen, allerdings in einem recht stabilen Zustand, zwischen den Kampfhandlungen, inmitten einer Ruhephase vor dem Sturm. Trotz des konkreten biografischen Bezugs – vielleicht ohnehin eine falsche Fährte der Autorin? – bleibt das Geschilderte letztlich rätselhaft. Der Ich-Erzähler tritt uns nicht als glorioser, siegessicherer Held entgegen, sondern als vergrübelt-introvertierter, an der ihm zugedachten Aufgabe kaum noch interessierter Mann („Man hat eine Landkarte vor mir ausgebreitet. Oder man hat sie zu entfernen vergessen.“), der mit ihm unbekannten Mitstreitern aus ihm nicht vertrauten Seitentälern in einer Unterkunft einquartiert ist, wo er des Nachts bildreiche – und in der Verkehrung gängiger Metaphorik teils verblüffende („Ein begonnener Schrecken holt leicht das Haus vom Dach“) – Assoziationsketten entfaltet, die sich auf die mangelnde architektonische Geradlinigkeit des Hauses, die wohl einem sich wiederholenden Zyklus aus kriegerischer Zerstörung und Wiederaufbau geschuldet ist, ebenso beziehen können wie auf kulturelle Feindifferenzierungen zwischen den untergebrachten (militärischen) Gästen. Der Schluss des Textes eröffnet eine doppelte Perspektive: Ob hier der erstaunlichen Resilienz der einfachen Landbevölkerung gedacht wird, die trotz der Beschwernisse der Requisition immer wieder neuen Lebenswillen findet, oder gerade umgekehrt deren Hang getadelt wird, es sich – auch im Wortsinne – allzu rasch mit wechselnden Machthabern einzurichten, bleibt freilich offen.
Am 17. Juni 1963 bedankt sich Kolleritsch für den Prosatext und schickt Aichinger Belegexemplare, weiters erkundigt er sich, wie er „zu einer Zu- oder Absage“ des auf seine Schreiben nicht reagierenden H. W. Richter für eine im Jahr 1964 geplante Lesung der Gruppe 47 in Graz kommen könne, und erwähnt im selben Atemzug das Heft 9, wobei er sein stehendes Ansuchen um weitere Texte diesmal mit umgekehrter Psychologie zu camouflieren weiß: „Bitten an Sie und Herrn Eich darf ich jetzt wohl kaum mehr aussprechen, ich darf nur hoffen, daß Sie uns hier in Graz nicht vergessen.“ (FNI-Manuskripte-271769 III/AR43,A) In einem weiteren Brief von 3. November freut sich Kolleritsch auf Aichingers Eintreffen für ihre Lesung am 19. November im Forum Stadtpark, sehr wohl nimmt er aber eine neuerliche Bitte um Texte für die manuskripte im Brief schon vorweg. Aichinger steuert für Heft 10 (1964) wieder zwei Texte bei, die beiden Gedichte Astronomie und Mägdemangel. Zuletzt wird ein Brief an Klaus Hoffer, den Aichinger am 28. März 1990 auf die Rückseite einer Postkarte der Französischen Botschaft am Wiener Schwarzenbergplatz schreibt, im Hoffer zum 70. Geburtstag gewidmeten Heft 198 (2012) der manuskripte veröffentlicht. In einigen Jubiläumspublikationen findet Aichinger ebenfalls Berücksichtigung: in manuskripte: 1960 – 1980. Eine Auswahl, herausgegeben von Alfred Kolleritsch und Sissi Tax (1980), in der Heftnummer 149 (2000) mit einer Textauswahl von 1960 bis 2000, herausgegeben von Alfred Kolleritsch und Günter Waldorf, sowie im manuskripte-Sonderheft für Alfred Kolleritsch (1981), herausgegeben von Helmut Eisendle und Klaus Hoffer.
Als Verfasserin experimenteller Literatur, als prononcierte weibliche Stimme der österreichischen Nachkriegsmoderne nimmt Ilse Aichinger gemeinsam mit Barbara Frischmuth und Friederike Mayröcker, die ebenso bereits in den ersten Jahrgängen der manuskripte publizierten, eine markante Sonderstellung ein. Dass Alfred Kolleritsch die im persönlichen Umgang eher scheue, um ihre Person wenig Aufhebens machende Autorin mehrfach zur Mitarbeit motivieren konnte, lässt nicht allein dessen herausgeberisches Geschick erahnen, sondern untermauert vor allem einmal mehr die repräsentative Rolle dieser Literaturzeitschrift, deren bald zur Gänze am Franz-Nabl-Institut befindliches Redaktionsarchiv der Wissenschaft tolle Einblicke bescheren wird.
Lisa Erlenbusch