„WIR REVOLTIEREN HIER GEGEN DIE SITUATION: SETZEN DEM DOKT[R]INÄREN KLEMBIM KEINEN DOKT[R]INÄREN KLIMBIM GEGENÜBER.“ Entwurf der Marginalie Alfred Kolleritschs für die manuskripte Nummer 27 (1969)
Das Objekt zeigt den Entwurf des in Heft 27 erschienenen Kommentars Kolleritschs. Wohl in Eile und nur für die persönliche Lektüre bestimmt, notierte er seine Gedanken in einen Tages-Stunden-Vormerk-Kalender (der Firma Hornig) im DIN-A5- Format aus dem Jahr 1969. Die jeweils rechte Seite ist für einen Wochentag vorgesehen und bietet eigentlich die Möglichkeit für Termin-Eintragungen von 8 bis 19.30 Uhr. Diesen Platz nutzte Kolleritsch gerne für seine Notizen, die sich bei vorliegendem Entwurf über acht Seiten vom 21. Jänner bis zum 1. Februar erstrecken. Der gedrängte Duktus der Handschrift, viele Verschleifungen, vor allem im Auslaut, Kontraktionen, fehlende Markierungen der Umlaute sowie teilweise stenographische Kürzel und Streichungen erschweren die Lektüre, wenngleich sie gleichzeitig einen Einblick in Kolleritschs Arbeitsweise gewähren. Nur wenige Passagen des Entwurfs ließ er in der endgültigen Fassung seiner Marginalie unberücksichtigt; zumeist änderte er nur einzelne Wörter oder Formulierungen. Die präzise Ausformulierung der Gedankengänge überrascht für eine Entwurfsstufe, lediglich die beiden letzten Seiten des Texts weisen zahlreiche Verschiebungen, Einfügungen und Streichungen auf. Einige davon dürften zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt sein, da Kolleritsch zwei distinkte Stifte verwendete. Bei der Einfügung am Ende der Seite vom 31. Jänner ist beispielsweise erkennbar, dass das Wort „außerhalb“ nur mehr auf das Papier gedrückt wurde, die Mine also keine Farbe mehr abgegeben hat – mitsamt ‚Schreibproben‘ auf der sonst leer gelassenen linken Seite. Die Transkription wurde graphemgenau angefertigt und verzichtet gemäß editorischen Standards auf eine unmarkierte Emendation oder die Markierung von Fehlern im Text.
Im Jahr 1969 entbrannte in den Heften 25 bis 27 der manuskripte eine Diskussion um die gesellschaftliche Funktion von Kunst und Literatur. Angeheizt von der in diesen Bereichen immer stärker um sich greifenden Politisierung, insbesondere in der BRD und im Zusammenhang mit der 68er-Bewegung, entfachte sich die Debatte um ästhetische und moralische Werte, die in der Geschichte der manuskripte einmalig bleiben sollte.
Alfred Kolleritsch kritisiert in der Marginalie von Heft 25: „Die Literatur, die jetzt nur mehr politisch agitatorisch sein soll, wird zu leichtfertig politisch angreifbar gemacht, verliert ihre notwendige Differenziertheit gegenüber der gleichgeschalteten Dummheit, und gibt so die Aktion einer begründbaren Bewußtseinsveränderung auf.“ Weiters argumentiert er, „daß ein konkretes Gedicht heute genauso eine Kampfansage gegen das Establishment ist wie ein ästhetisches Maoabzeichen.“ Kolleritsch betont die Unumgänglichkeit einer Revolution, allerdings „einer, die nicht nur Front macht, sondern sich als Salz in die Süßspeise der heimatlichen Erde und ihre [!] gesunden Erdenbürger mischt.“ Besonders diese Ansicht attackiert Michael Scharang in einem Brief, der im darauffolgenden Heft 26 gedruckt wird: „Ich meine das wirklich nicht zynisch, wenn ich frage, ob Du Dir bei den andauernden Auseinandersetzungen mit diesen Leuten deren Jargon angewöhnt hast.“ Außerdem missbilligt er die starke Fokussierung Kolleritschs auf Graz und kontert in Bezug auf das konkrete Gedicht: „[N]ur den Vergleich konkretes Gedicht – ästhetisches Maoabzeichen kann man begreifen, nicht aber, daß das eine oder das andere eine Kampfansage sein soll“ ‒ Scharang kritisiert Kolleritschs Zugeständnisse und sein Festhalten an der Autonomie von Kunst und Kultur. Kolleritsch druckt im selben Heft eine Erwiderung ab, in der er seine Standpunkte wiederholt und bekräftigt und auf die von Scharang verlangten Stellungnahmen und Positionierungen verzichtet. Er bringt auch einen Auszug aus einem Brief Peter Handkes, der unter anderem von Scharang „ein bißchen Empfindlichkeit und Sensibilität“ fordert. Handke und Kolleritsch sind sich darin einig, an einem autonomen Kunstbegriff festhalten zu wollen.
Für eine dezidiert politische bzw. gesellschaftskritische Literatur treten auch Elfriede Jelinek und der Komponist Wilhelm Zobl in Heft 27 ein. Sie gehen mit Scharang d’accord, dass „die Kunst […] nicht versagt [hat], […] [a]ber die Künstler, die unreflektierten Künstler wie Du und Deinesgleichen.“ Weiters halten sie dem manuskripte-Herausgeber vor: „Das beweist uns, daß Du Scharang überhaupt nicht verstanden hast oder Dir nicht die Mühe nimmst, auf ihn einzugehen.“ Kolleritsch unterstellt Jelinek in einem weiteren Kommentar: „Was Elfriede Jelinek geschrieben hat, zeigt deutlich die Hybris. Man nennt sich revolutionärer Schriftsteller, betreibt seine Revolutionsetüden und lebt von dem Geschäft, das man kritisiert […].“ Er hebt die Erfolge ‚seines‘ Widerstands hervor und betont erneut die Notwendigkeit des Kampfes gegen „die Totengräber der Zukunft“, die er weiters als „Verteidiger der umwandelbaren [!] Eigenständigen“ bezeichnet. Klaus Hoffer unterstützt Kolleritsch mit einem Schreiben, jedoch vermeidet auch er, wie Kolleritsch und Handke, eine theoretische Positionierung.
Heft 27 bildet den Endpunkt der Auseinandersetzung, zu einem vollständigen Bruch führte die kurzfristige Kontroverse keineswegs, vielmehr publizierte Kolleritsch, der einen betont offenen Literaturbegriff vertrat, auch weiterhin Texte, die der Gesinnung von Scharang, Jelinek und Zobl entsprachen. Die beiden ersteren waren auch in weiterer Folge regelmäßig mit Texten in den manuskripten vertreten, Jelinek blieb bis heute eine treue Beiträgerin. Auch im Film Die Grazer Gruppe (2019) von Markus Mörth wird dieser Auseinandersetzung Raum gegeben. Kolleritsch meinte in Retrospektive dazu:
„Die Elfriede Jelinek ist uns äußerst gewogen geblieben, sie hat mit ihrem einmaligen Auftritt gegen uns zusammen mit unserem Freund Michael Scharang eben eingeklagt, dass wir nicht politisch seien. Das war damals der Höhepunkt der Auseinandersetzung Literatur und Politik. Da hat dann der Peter Handke und der Klaus Hoffer und ich dagegen etwas geschrieben und dann ist von der Jelinek-Seite her ein Brief gekommen, wo sie gesagt hat, hören wir auf uns wegen der politischen Differenzen zu zerkriegen, wir sind ja Freunde, nicht. Und das ist so geblieben.“
Auch wenn Kolleritsch eine klarere Positionierung in dieser Kontroverse gemieden hatte, nahm er nicht zuletzt durch die Auswahl der publizierten Texte immer wieder politisch Stellung und wurde bis zuletzt nicht müde, gegen Faschismus, Konservatismus und rechte Gruppierungen anzukämpfen, wie auch folgender Textabschnitt aus dem Entwurf illustriert:
„Wir wollen den empirisch nachweisbaren Fortschritt, den Einsatz all dessen, was Fortschritt sein kann, das Mittlere + Linke gegen das extrem Rechte, gezielt gegen Personen, die oft so gottverlassen perfid schreiben, daß sie jeder Denkende nicht mehr ernst nimmt + dabei vergißt, daß sie die gewollten Represe[n]ta[n]ten sind derer sind, die die Notwendigk[ei]t der Veränder[un]g der herrschenden Systeme mit dem nun schon b[is] zum Überd[r]uß analys[ier]ten Wortmaterial der Fasch[isti]schen Ideologie verteidigen. Diese Verteidiger des unwandelbaren Eigenständigen, sind die Totengräber der Zukunft + von denen gibt es so viele, daß es für uns genügt, sie hier bloßzustellen; obwohl sie durch nichts zu erschüttern sind.“
Lisa Erlenbusch
(weiterführende) Literatur:
Manuskripte 9 (1969), H. 25‒27.
Englerth, Holger: „In den Manuskripten kann man nicht blättern, man ist verurteilt zu lesen“. manuskripte (seit 1960). Erstellt am 12.04.2010. online
Wiesmayr, Elisabeth: Die Zeitschrift manuskripte 1960‒1970. Königstein/Ts.: Hain 1980, S. 40‒50.
Miesbacher, Harald: Michael Scharang – eine biographische Skizze. In: Michael Scharang. Hrsg. v. Gerhard Fuchs und Paul Pechmann. Graz/Wien: Droschl 2002. (= Dossier. 19.) S. 221‒248.